Der Brand in der Bombennacht vom 28. auf den 29. März 1942 war verheerend. Flammen von 1200 Grad Celsius fegten durch St. Marien, der Bürgerkathedrale von Lübeck. Dieser Feuersturm sorgte dafür, dass die Kalktünche von den Wänden platzte – und Farbreste alter Bemalungen freilegte.
Von 1948 bis 1954 wurden sie aufwendig restauriert. Einen Heiligenzyklus im Mittelschiff, der auf die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts zurückgeht, ehrte man in einer Briefmarkenedition. Da man im Chorraum keine Malereien fand, entschlossen sich der Berliner Restaurator Dietrich Fey und sein Gehilfe, der relativ mittellose Künstler Lothar Malskat (1913-1988), zu einem beinahe genialen Coup. Er sollte als größter Fälscherskandal der Nachkriegszeit in die Annalen eingehen.
Der Truthahnfehler und die »größten Funde Europas«
Malskat, der bereits 1937 – ebenfalls im Verbund mit Fey – den Schleswiger Dom »verschönert« hatte, imitierte den gotischen Stil perfekt und kreierte 21 Figuren. 1937 war ihm noch ein unangenehmer Fehler unterlaufen: Er hatte einen Truthahn in einen Tierfries gezeichnet, den die Nazis kurzerhand umdeuteten. An der Malerei könne man erkennen, dass der »Nordische Mensch« schon 200 Jahre vor Kolumbus die Neue Welt entdeckt habe …
Diesmal lief alles glatt. »Der Schöpfer dieser Gemälde ist einer der Großen im Reiche der Kunst«, lautete das einstimmige Urteil der Koryphäen. Die scheinbar restaurierten Heiligen wurden als »größte Funde Europas« gepriesen, Lübeck galt als »Kulturzentrum des Mittelalters«. Das »unerreichte mittelalterliche Meisterwerk von gewaltiger Zeugniskraft« war sogar Thema einer Doktorarbeit.
Vielleicht würde man noch heute von der »Leuchtkraft der Farben« und der »selbstbewußten bürgerlichen und künstlerischen Gesinnung« der Malereien sprechen (und in vielen Reiseführern darüber lesen) – wenn, tja, wenn es nicht den Künstlerneid und die Künstlereitelkeit geben würde. Als Fey während der 700-Jahr-Feier der Marienkirche von Bundeskanzler Adenauer gelobt und Malskat nur mit einigen Bier- und Schnapsmarken abgespeist wurde, wandte sich der Meisterfälscher an die Presse.
Der »Amoklauf der Wahrheit«
Obwohl der SPIEGEL seinen »Amoklauf der Wahrheit« (Malskat) abdruckte, wurde den Ausführungen des schmächtigen Königsbergers nicht geglaubt; erst die Selbstanzeige von 1952 wies ihn als Schöpfer der Chorgestalten aus. Am 25. Januar 1955 wurde Fey zu einer 20-monatigen, Malskat zu einer 18-monatigen Gefängnisstrafe verknackt. Unklar blieb, inwieweit die Kirchenleitung von allem gewusst und stillschweigend mitgemacht hatte. Kurzerhand beschloss der Bischof, die Gemälde abzuwaschen, zumal sie, laut den Richtern, »mit einem sittlichen Makel behaftet und völlig wertlos« seien.
Heute trauert man den verschwundenen Imitaten bei jeder Führung nach. »Der Fall Lothar Malskat« wurde 1966 vom ZDF verfilmt, Günter Grass baute ihn in seinen Roman »Die Rättin« (1986) ein.