Was sollen Reiseführer? In erster Linie: informieren. Darüber, was sich lohnt, in einer Stadt, einer Region oder einem Land anzusteuern. Doch sie dürfen auch – so zumindest unsere Auffassung – kritische Themen anfassen. Das »Nukleare Entsorgungszentrum« in Gorleben ist so ein Thema. Sven Bremer, Autor unseres Reiseführer zu Lüneburg und Lüneburger Heide, erzählt die Geschichte des geplanten Endlagers für Atommüll nach.
Der wohl bekannteste Ort des Wendlandes hat deutlich weniger Fachwerk als Hitzacker oder Dannenberg zu bieten. Er kann nicht mit einer 1-a-Lage am Fluss wuchern wie Schnackenburg. Es gibt kein besonderes Museum wie in Lüchow, keinen See wie in Gartow. Und rund wie die Rundlingsdörfer Satemin oder Lübeln ist das kleine Dorf im Osten des Wendlands auch nicht.
Dafür ging es hier jahrzehntelang rund – und wohl jeder kennt Gorleben durch das geplante Atommüllendlager und durch den breiten Protest dagegen.
Salzstock und Sitzblockaden
Es mag so einiges nicht haben, dieses unscheinbare Dorf in der Nähe von Gartow. Aber es hat einen Salzstock, den die Bundesregierung in den späten 1970er Jahren für geeignet hielt, als Lager für hochradioaktiven Müll zu dienen. Das sahen nicht nur die Bewohner des Wendlandes anders. Gorleben wurde zu einem Symbol des Widerstandes gegen die Atompolitik in Deutschland. Der Widerstand veränderte das Leben im Wendland nachhaltig, und der Slogan »Gorleben ist überall« prägt seit Jahrzehnten die Proteste in Deutschland gegen die Nutzung der Atomkraft.
Schon wenige Wochen nach der Standortbenennung Gorlebens als »Nukleares Entsorgungszentrum« im Februar 1977 versammelten sich knapp 20.000 Menschen, um gegen das geplante Atommülllager zu demonstrieren. Die ersten Bohrtrupps für Baugrunduntersuchungen zwei Jahre später wurden durch Sitzblockaden an ihrer Arbeit gehindert. Erstmals sah man Bilder von Bauern auf ihren Traktoren, die fortan das Bild des Widerstandes im Wendland prägten. Im Januar 1980 begannen ungeachtet des massiven Protests die ersten Tiefbohrungen am Salzstock. Die Bohrstelle mit der Ziffer 1003 wurde eingerichtet.
Bohrstelle 1004 und ein Zwischenlager
Bohrstelle 1004 wurde dann von Atomkraftgegnern besetzt. Hier riefen die Widerständler Anfang Mai 1980 die »Republik Freies Wendland« aus und errichteten ein Hüttendorf. 500 Menschen lebten hier dauerhaft. An den Wochenenden kamen Tausende von Sympathisanten. Es war ein friedlicher Widerstand, bunt, kreativ, mit eigener Piratenradio-Station und eigenen Liedern. Viele Bewohner der Region versorgten die Besetzer mit Essen und Baumaterial. Es hatte ein bisschen etwas von Woodstock, aber es war hochpolitisch. Und es wurde dramatisch. Am Morgen des 4. Juni räumten Polizei und Bundesgrenzschützer das Hüttendorf – zum Teil mit brutaler Härte, obwohl sich die Besetzer mehrheitlich auf einen passiven, friedlichen Widerstand geeinigt hatten.
Obwohl das Endlager nicht genehmigt war, machte die Atomwirtschaft Druck und begann 1982 mit dem Bau des Zwischenlagers Gorleben, was den »Tanz auf dem Vulkan« zur Folge hatte: eine Großdemonstration. Menschenketten versuchten vergebens den weiteren Ausbau zu verhindern. Rund zwei Jahre nach Baubeginn, am 8. Oktober 1984, wurden die ersten Atommüllfässer angeliefert – immer wieder gestört von zahlreichen Sitzblockaden. Getragen und organisiert wurden die Proteste in erster Linie von lokalen Organisationen wie der Bürgerinitiative Umweltschutz Lüchow-Dannenberg.
Das Zwischenlager wurde 1983 fertiggestellt, konnte aber wegen der massiven Proteste sowie aufgrund Rechtsstreitigkeiten zwischen Land und Bund erst 1995 in Betrieb genommen. Im Transportbehälterlager sollte insbesondere der hochradioaktive Atommüll aus den Wiederaufarbeitungsanlagen La Hague und Sellafield über Jahrzehnte in den Castoren zwischengelagert werden, bis ein geeignetes Endlager zur Verfügung stehen würde.
Tag X und der 13. Castor-Transport
Am 25. April 1995, am sogenannten »Tag X«, rollten die ersten Castor-Behälter mit hochradioaktivem Material ins Zwischenlager – begleitet von Protesten und einem enormen Polizeiaufgebot. Tag X, weil das genaue Datum geheim gehalten wurde. Seitdem ist der Buchstabe X ein weiteres Symbol für den Widerstand im Wendland geworden, steht auf Feldern und Äckern, schmückt Zäune, Dächer, Fassaden, Bushaltestellen und Marktplätze.
Im Jahr 2000, beschloss die damalige rot-grüne Bundesregierung erstmals den Atomausstieg. Ein Moratorium bis 2010 trat für Gorleben in Kraft. Die Erkundung des Salzstocks wurde zunächst gestoppt, dann wieder aufgenommen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hob das Moratorium auf, verlängerte die Laufzeiten der Atommeiler und brachte neue Castortransporte auf den Weg – die erneut alles andere als reibungslos verliefen. Bauern hatten sich in einer Betonpyramide angekettet, zwei Greenpeace-Mitglieder hatten sich in einem als Bierlastwagen getarnten Lkw an einen Betonblock fixiert. Im Herbst 2011 kam es zu erbitterten Auseinandersetzungen um den insgesamt 13. Castor-Transport. Die Bewegung hatte nach der Reaktor-Katastrophe im japanischen Fukushima noch einmal Zulauf erhalten. Wo es nur ging, blockierten AKW-Gegner die Züge. Der Konvoi mit dem Strahlenmüll brauchte 125 Stunden und 49 Minuten von La Hague bis nach Gorleben. Die Kosten beziffert der niedersächsische Innenminister auf rund 33 Millionen Euro.
Die Begründung der Widerständler wird amtlich
Seit 2013 sucht eine Endlager-Kommission nach einem geeigneten Endlager. 2017 wurden die unterirdischen Erkundungen im Salzstock zu Gorleben endgültig eingestellt, die oberirdischen Anlagen bleiben bestehen. Gorleben, so die Befürchtung der Bürgerinitiativen, blieb also zunächst quasi auf »Stand by« als potenzieller Standort.
Allerdings nur bis Herbst 2020. Am 28. September des Jahres war es amtlich: Gorleben war raus. Die Begründung der Bundesgesellschaft für Endlagerung in ihrem Zwischenbericht war genau die, die die Gegner der geplanten Anlage seit Jahren und Jahrzehnten immer wieder angeführt hatten. Der Salzstock im Wendland sei instabil, liege in einer tektonischen Störungszone, das Deckgebirge im Salzstock sei nicht intakt, zudem sei die Gewässerchemie ungünstig und verschiedene Bohrungen hätten überdies auf Gasvorkommen schließen lassen.
Das Schiff im Wald
Am Waldrand, in unmittelbarer Nähe zum Bergwerk Gorleben, fällt dem Besucher etwas ins Auge, bei dem man sich zunächst einmal die Augen reiben muss: Da steht nämlich mitten im Wald ein Schiff, genauer gesagt das ehemalige Greenpeace-Aktionsschiff »Beluga«. Ab Mitte der 1980er Jahre war das 26 Meter lange ehemalige Feuerlöschboot bei zahlreichen spektakulären Greenpeace-Aktionen in der Anti-Atomkraft-Bewegung im Einsatz, insbesondere vor den Küsten der Wiederaufbereitungsanlagen im britischen Sellafield sowie im französischen La Hague.
Somit passt es, dass das Schiff seit 2013 seinen letzten »Hafen« hier in Gorleben gefunden hat. Mehrere Informationstafeln am Schiffsrumpf und am Waldrand informieren die Besucher über den Kampf der »Beluga« gegen die Wiederaufarbeitung und den Widerstand der Bürger im Wendland gegen ein Nukleares Entsorgungszentrum in Gorleben.