Metropolen zeigen die Mentalität eines Landes oftmals im Miniaturformat. Auch Prag ist eine solche Stadt und präsentiert sich – nicht nur wegen eines Künstlers, der die Politiker provoziert – als unverklemmt offen, doch auch vergangenheitssicher wie im Schwarzen Ochsen, einer »Bierstubendinosaurierkneipe« mit »Kellnern, die so charmant wie der Eiserne Vorhang« sind. So zumindest die Einschätzung unserer Prag-Autoren Michael Bussmann und Gabriele Tröger, die die Klischeeidylle der Altstadt genauso wie die schönste Aussicht, die lässigsten Schuhe und das eindeutig beste Bier von ganz Mittelböhmen getestet haben.
Kunstpunk: Auf den Spuren David Cernýs
Was ist das denn? Zwei schlanke Männer aus Bronze pinkeln vor dem Franz-Kafka-Museum in ein Becken, das der tschechischen Landkarte gleicht – David Cernýs Antwort auf den EU-Beitritt Tschechiens im Jahr 2004. David Cerný (Jahrgang 1967) ist das Enfant terrible der tschechischen Kunstszene: kein Künstler der leisen Töne, sondern einer mit viel schwarzem Humor und Hau-Drauf-Mentalität.
Zu übersehen sind seine Werke im Prager Stadtzentrum kaum. Schlappe 39 Tonnen wiegt der elf Meter hohe Kafka-Kopf beim Shoppingcenter Quadrio in der Neustadt. 42 Schichten aus Stahl rotieren unaufhörlich und lassen Franzens Babyface ständig zerfließen und neu entstehen. »Quo Vadis« heißt Cernýs Trabi auf vier plumpen Menschenbeinen, der im Garten der Deutschen Botschaft an die Ereignisse im Spätsommer 1989 erinnert, als Tausende von DDR-Bürgern darin kampierten. In der Altstadtgasse Husova baumelt – den Kopf im Nacken – Sigmund Freud vom Dach. In der Lucerna-Passage in der Neustadt sitzt Tschechiens Nationalheiliger Wenzel auf einem kopfüber hängenden Gaul. Und im Stadtteil Žižkov lässt Cerný düstere, gesichtslose Wasserkopf-Metallbabys den Fernsehturm hinaufkrabbeln.
Es gibt noch viel mehr von Cerný – was man nebenbei entdeckt, wenn man durch die Straßen der 1,2-Millionen-Metropole streift … Nur die wohl grandioseste Cerný-Arbeit ist längstens abgebaut: Zur Präsidentschaftswahl 2013 ließ er einen neun Meter hohen, lilafarbenen Stinkefinger von einem in der Moldau schwimmenden Kahn auf die Prager Burg, den Sitz des Präsidenten, zeigen. O-Ton Cerný: »Ein Fuck-Zeichen für die beschissenen Kommunisten.«
davidcerny.cz.
Der Place to be: Náplavka
Waldschratbärte aufgepasst, hier müsst Ihr hin! Am Moldauufer der südlichen Neustadt trifft sich die urbane In-Crowd.
Entlang der Uferpromenade, der Náplavka, wurde eine ganze Reihe von ausrangierten Schiffen vertäut, auf denen man Craft Beer tschechischer Biermanufakturen und Aperol Spritz trinkt. Oft spielen kleine Combos auf, kulturelle Veranstaltungen bietet die (A)VOID Floating Gallery nahe der Eisenbahnbrücke Železnicní most.
Jeden Samstag wird zudem ein Bauernmarkt abgehalten, wo man Biosteaks, Eier von freilaufenden Hühnern und quietschmuntere Forellen aus Becken kaufen kann. Unsere Einschätzung: immer einen Ausflug wert, an Sommerwochenenden allerdings pickepackevoll!
Náplavka, Rašinovo nábreží.
Die schönste Aussicht: Petrín-Hügel
Um eine Stadt zu begreifen, steigt man ihr am besten erstmal aufs Dach. In Prag geht das ganz bequem mit der Standseilbahn von der Kleinseite aus, dem Stadtteil unter der Burg.
Die »Lanovka«, wie Seilbahn im Tschechischen heißt, bringt fußfaule Touristen in wenigen Minuten auf den mit Apfel- und Zwetschgenbäumen bestückten Prager Hausberg. Oben steht ein Eiffelturm in Miniaturformat, von dem man einen Logenblick über Prag und das ganze Umland genießt.
Kinder und Kindgebliebene lachen sich nebenan im Spiegelkabinett schlapp. Danach setzt man sich auf eine der beiden Restaurantterrassen, bestellt ein kühles Getränk und schaut sich so richtig satt am Moldaupanorama und den legendären 100 Prager Türmen.
petrinska-rozhledna.cz.
Essen: La Degustation Bohême Bourgoise
An sich glaubt man in Tschechien nicht an kleine Portionen. Ein großer Teller mit viel drauf zum Dumpingpreis zeichnet für die meisten Tschechen bis heute ein gutes Restaurant aus. Zum Glück geht böhmische Küche auch anders.
Oldrich Sahajdák kocht in seinem Restaurant La Degustation Bohême Bourgoise aromareiche, raffiniert abgewandelte Klassiker in Tapas-Portiönchen – und zwar so gut, dass über dem Restaurant ein Michelin-Stern strahlt. Das Menü im reduzierten, aber doch behaglichen Lokal beinhaltet unter anderem Gänge wie »Rote Bete, Wacholder, Ziegenkefir«, »Südböhmischer Karpfen, Rogen, Lauch« oder »Kohlrabi, Hefe«. Klingt eher scheußlich, aber schmeckt köstlich! Wird Prag langsam zum Pilgerziel für Foodies?
La Degustation Bohême Bourgoise, Haštalská 18, Josefov, Tel. 222311234, ladegustation.cz, 11-Gänge-Menü (!) 124 Euro.
Die glanzvollste Kirche: Sankt-Nikolaus-Kirche
Gott hat in Tschechien zwar viele Häuser, aber nur wenig Zulauf – gerade 20 Prozent der Bevölkerung bekennt sich zu einer Konfession. Manche Kirche dient mittlerweile gar als Museum, für das Eintrittsgeld zu entrichten ist, so die Sankt-Nikolaus-Kirche auf der Prager Kleinseite. Macht nichts. Wer sich während seines Pragtrips für nur eine Kirche Zeit nehmen will, sollte diese auswählen.
Wie die gesamte Kleinseite präsentiert auch sie Barock total: keine Ecke ohne Putte – und darüber ein bombastisches Deckengemälde von 1500 m² Größe, das die Apotheose des Heiligen Nikolaus zeigt. Wer mag, kann im Anschluss den Kirchturm besteigen und von oben einen Blick über das Ziegelteppichmeer der Kleinseite werfen.
Kostel svatého Mikuláše, Malostranské námestí, Malá Strana, tägl. 9-17 Uhr, Eintritt 2,60 Euro.
Einkaufen: Schuhe von Botas 66
Hellblau, erdbeerrot, weiß-grau-schwarz oder auch mal braun: keine Pragrecherche ohne neue Botas-Schuhe. Die bunten Retrosneakers sind hübsch anzusehen und derart robust, dass sie uns nicht nur durch Böhmen, sondern auch schon durch halb Afrika und Indien getragen haben.
Geboren wurde die Marke in den 1960er-Jahren als Turnschuh für die Hammer-und-Sichel-Sportler der damaligen Tschechoslowakei. Der »Botas 66« genannte Relaunch fand im Jahr 2008 statt. Seitdem trägt alles, was in Sachen Mode etwas auf sich hält im kleinen Land, Botas an den Füßen. Witzig: Zu jedem Paar Schuhe gibt es zwei Paar verschiedenfarbige Schnürsenkel.
Botas 66, Skorepka 4, Staré Mesto, das Paar kostet zwischen 65 und 80 Euro, botas66.com.
Der Klassiker: Altstadt mit Karlsbrücke
Ganz klar, in Staré Mesto, der Prager Altstadt, lebt man ungeniert und ausschließlich vom Tourismus. Böhmisches Glas made in China und russische Kunstfellmützen werden in wie geklont wirkenden Geschäften verkauft. Betrunkene italienische Schulklassen torkeln durch überfüllte Gassen mit Restaurants, in denen man sich schnell eine touristische Erkältung holen kann. Die ganze Klischeesuppe also.
Doch Staré Mesto ist gleichzeitig ein Stadtteil von solcher Postkartenherrlichkeit, dass es schon fast wehtut. Die enggassig-verworrene Mixtur aus mittelalterlichen Arkaden, Durchlässen und Bogengängen wirkt wie von einem bekifften Städteplaner im Märchenrausch entworfen. Stundenlang kann man sich hier treiben lassen. Kann in verborgene Hinterhöfe spitzen, in Kaffeeoasen ein Stück Honigkuchen essen und am Altstädter Ring, einem Platz von vollendeter Grandezza, staunend vor der meisterhaften Astronomischen Uhr stehen. Zur Blauen Stunde sollte man sich die von Barockstatuen gesäumte Karlsbrücke vornehmen.
Von der Brücke zeigt sich die illuminierte Prager Burg, das klobig-gedrungene Wahrzeichen der Stadt, von ihrer Schokoladenseite. Eine Kitschkulisse vom Feinsten! Japanische Brautpaare lassen sich hier ablichten und werfen anschließend eine Münze in die Moldau – das nämlich besiegelt die ewige Liebe.
Ai Wei Wei und tschechischer Kubismus: Kunstreigen im Messepalast
Was darf es sein? Schiele, Klimt oder Beuys? Surrealismus, Kubismus oder sozialistischer Realismus? Matisse oder Picasso? Allein die ständigen Ausstellungen des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst im riesigen Veletržní palác können überfordern. Bis Januar 2018 mischt zudem der chinesische Künstler Ai Wei Wei diesen großartigen Kunsttempel auf.
Dass von den Wänden Seufzer der Bewunderung widerhallen, liegt aber nicht nur an den Exponaten, sondern auch an der Architektur. Der Messepalast wurde 1928 als größtes funktionalistisches Gebäude Europas eröffnet: um eine elegante Halle mit verglastem Dach schmiegen sich Galerien von solcher Leichtigkeit, dass Le Corbusier sich beim Anblick des Gebäudes wie ein Dilettant vorgekommen sein soll.
Veletržní palác, Dukelských hrdinu, Holešovice, ngprague.cz, tägl. (außer Mo) 10-18 Uhr, Eintritt ca. 9 Euro.
Bierchen zischen wie anno dazumal: Im Schwarzen Ochsen auf dem Hradschin
Ganz ehrlich: Gut riechen tut’s hier nicht, auch wenn in Tschechien seit Juni 2017 ein umfassendes Rauchverbot gilt und damit auch im U Cerného vola, dem »Schwarzen Ochsen«, nicht mehr gequalmt werden darf. Doch die 40.000 vorher darin gerauchten Kippen haben sich festgesetzt in jeder Ritze der schweren, alten Holzbänke und an den speckigen, spärlich dekorierten Wänden. Gleiches gilt für die Gerüche aus der Küche nach frittierten Speckwürsten, nach in Schmalz gebratenen Knödeln mit Ei, nach Topinka, dem mit viel Knoblauch bestrichenen Fettbrot, und nach Hermelín, einem in Würzöl und Zwiebeln eingelegtem Weichkäse.
Der Schwarze Ochse, das ist ein Stück altes Prag in Reinform, einer jener lauten Bierstubendinosaurier, die man noch aufsuchen sollte, bevor sie die Gentrifizierung verschluckt hat. Wer Glück hat, darf sich als Tourist zwischen die widerwillig zur Seite rückenden Stammgäste quetschen, deren Bierstrichzettel zuweilen Gartenzauncharakter haben. Und wer noch mehr Glück hat, darf auch ein Bier bestellen – die Keller sind zuweilen charmant wie der Eiserne Vorhang. Doch dann, wenn alles gut geht, kommt man nach ein paar Humpen bestens gezapftem Velkopopovický kozel auch mit den größten Stinkstiefeln ins Gespräch und will gar nicht mehr gehen. Versprochen!
U cerného vola, Loretánské námestí 1, tägl. 10-22 Uhr.
Ausflug nach Mittelböhmen: UNESCO-Welterbe Kutná Hora
Die königliche Bergbaustadt Kuttenberg 60 km östlich von Prag war im Mittelalter steinreich. Von jener Zeit zeugt eine Reihe prächtiger gotischer Kirchen, so wert- und bedeutungsvoll, dass sie es auf die UNESCO-Welterbeliste geschafft haben.
Heute ist Kutná Hora ein Provinzstädtchen mit rund 20.400 Einwohnern, das sich trotz nicht weniger Touristengruppen eine angenehme, bisweilen etwas verstaubte Bodenständigkeit bewahrt hat. Eine Gassentour führt vorbei an opulenten Patrizierhäusern, auch kann man ein mittelalterliches Silberbergwerk besichtigen. Größter Anziehungspunkt ist jedoch das im Vorort Sedlec gelegene Beinhaus, eine mit grotesken Kunstwerken aus den Knochen Zehntausender Pestopfer dekorierte Kapelle. Da ein Kronleuchter aus Oberschenkelknochen und Rippen, dort Schädelketten – St.-Pauli- und Ed-Hardy-Fans werden sich im Paradies wähnen.
Übrigens ist trotz der Nähe zu Prag eine Übernachtung keine schlechte Idee – es gibt zahlreiche Unterkünfte. Am Abend, wenn die Tourenbusse abgefahren sind, legt sich Ruhe übers Städtchen. Nicht ganz: In der urigen Dacický pivnice (dacicky.com), wo das beste Bier Mittelböhmens gebraut und ausgeschenkt wird, klirren noch bis gegen Mitternacht die Gläser.
kutnahora.cz.