Dieter Katz hat während seiner Recherche für die Neuerscheinung »Ostfriesland – Ostfriesische Inseln« (1. Auflage 2007) nicht nur ein uraltes Kulturland und traumhaft schöne Eilande schätzen gelernt, sondern ist auch auf so manche liebenswerte Eigenheit (und skurrile Superlative) gestoßen. Mit ironischem Augenzwinkern berichtet er von der »Bergwelt« in Uplengen, dem vielleicht (wind)schiefsten Turm der Welt, einer Zahnpasta aus echten Nordseekrabben und gewitzt-umstrittenen Persönlichkeiten, wie sie eben nur im Norden der Republik gedeihen.
Ostfriesland, heißt es nach einer nordischen Lebensweisheit, sei so platt, dass man heute schon erkennen kann, wer morgen zu Besuch kommt. Folgerichtig darf sich in diesen Regionen mit der Bezeichnung »Berg« schmücken, was andernorts allenfalls als leichte Aufwölbung zu registrieren wäre. Immerhin wird so das Reisegepäck entlastet, denn seine Bergstiefel kann man angesichts der fulminanten ostfriesischen Gipfel getrost zu Hause lassen: Der König der hiesigen Bergwelt, der Kugelberg in Uplengen, bringt es nämlich nur auf bedauernswerte 18 Meter … Allgegenwärtig sind allerdings die künstlichen Berge, die Deiche. Sie bilden – wie der Volksmund sagt – die »fette Kruste« um den »platten Pfannkuchen«, der zu weiten Teilen unterhalb des Meeresspiegels liegt. Und würden die Deiche und Pumpwerke nicht zuverlässig ihren Dienst verrichten, wäre es um das fruchtbare Ostfriesland längst geschehen. Alle Straßen und Wege enden an jenen Sicherheit spendenden Deichen. Hat man diese erklommen, so geben sie endlich den Blick auf die Nordsee frei, zumindest zeitweise. Denn die See geht – von gelegentlichen Stürmen mal abgesehen – recht verlässlich ihrem Alltagsgeschäft nach, d. h. sie kommt und geht im Sechs-Stunden-Rhythmus. Wenn sie ihren Boden bei Ebbe nach und nach preisgibt, kann man dort, wo eben noch das Wasser brandete, umherspazieren, sich die Füße vom Schlick massieren lassen und im Rahmen geführter Wattwanderungen sogar bis zu einer der Ostfriesischen Inseln marschieren. Badehungrige müssen dann warten, aber wo sonst kann man schon auf dem Meeresboden spazieren gehen? Kehrt das kurzzeitig in der Emigration verschwundene Wasser dann wieder zurück, steht dem Badevergnügen nichts mehr im Wege. Zumindest im Prinzip, denn auch Wohlmeinende können nicht darüber hinwegsehen, dass die ostfriesische Festlandküste das Aschenputtel unter den deutschen Küsten ist; denn die meisten Sandstrände sind künstlich aufgeschüttet. Auf den Ostfriesischen Inseln jedoch zeigt sich das gegenteilige Bild. Sie sind allesamt Sandkleckse im Meer mit kilometerlangen, von Dünenketten gesäumten Traumstränden zur Seeseite.
Superlativen der Alltagskultur. Einige Skurrilitäten am Rand
Um Superlativen geht es in Ostfriesland nicht; auch wenn der wahrscheinlich schiefste Turm der Welt nicht in Pisa, sondern in Ostfriesland steht (in Midlum); auch wenn das Land Europas größte Ansammlung historischer Kirchenorgeln aufweist; auch wenn es hier Deutschlands schmalste Autobrücke gibt (in Amdorf, Achtung: Außenspiegel einklappen!) und wenige Kilometer weiter die letzte, von Hand betriebene Autofähre ihren Dienst verrichtet; auch wenn in Ostfriesland Deutschlands letzte Pferdebahn verkehrt (auf Spiekeroog) und in der Krummhörn der höchste und niedrigste Leuchtturm der Bundesrepublik zu finden sind. Denn Ostfriesland, das heißt vor allem Ruhe, Abgeschiedenheit und beneidenswerte Unaufgeregtheit.
Und so ist Ostfriesland in erster Linie der weite Himmel, das Watt und das Meer. Doch das Meer heißt hier See und die Seen heißen Meer. Denn wenn die Ostfriesen vom »Meer« reden, dann meinen sie explizit das »Große Meer«, das »Ewige Meer« oder einen anderen der ostfriesischen Binnenseen. Sprechen sie aber »von der See«, ist das weite Meer gemeint; die Nordsee eben. Überhaupt wird den Ostfriesen eine gewisse Eigenart nachgesagt und tatsächlich wirkt manches eigentümlich. Denn platt ist nicht nur das Land, »Platt« wird auch gesprochen. Man begrüßt sich beispielweise mit »Moin, Moin« und das zu jeder Tages- und Nachtzeit. Der plattdeutsche Gruß ist nicht etwa eine Entstellung des Wortes Morgen, sondern leitet sich vom friesischen »moi« her, was »gut« und »schön« heißt. Man wünscht sich also schlicht Alles Gute.
Eine weitere Besonderheit in der Alltagskultur der Ostfriesen sind zudem die regionalen Sportarten. Sich ausschließlich den normal-durchschnittsdeutschen Mannschaftsspielen wie Fußball oder Handball hinzugeben, wäre nun wirklich zu platt. Zum Vereinsleben eines jeden Dorfes gehört stattdessen insbesondere das Boßeln. Man trifft schon mal mitten auf der Landstraße auf eine Gruppe von Boßlern, denn Boßeln ist ein außerordentlich populärer ostfriesischer Mannschaftssport. Das plattdeutsche Wort »Boßel« bedeutet ganz einfach »Kugel«. Hierbei treten zwei Teams gegeneinander an und werfen eine Gummi- oder Kunststoffkugel in Kegeltechnik und aus vollem Lauf die Straße entlang. Es gewinnt die Mannschaft, die nach einer vorher festgelegten Zahl von Würfen die Boßelkugel über die längste Strecke treiben kann, wobei leicht ein Weg von 5 bis 10 km zurückgelegt wird. Die Kugel landet meist irgendwo im Graben und wird mit langen Stangen herausgefischt … Weniger häufig, aber dafür umso athletischer und gewissenhafter wird das Klootschießen betrieben – laut Friesischem Klootschießerverband der älteste Sport der Welt. Der Begriff kommt vom plattdeutschen Kluten, was »Erdklumpen« heißt. Der Legende nach haben die Küstenbewohner sogar schon den Römern mit kleinen Wurfkugeln das Fürchten gelehrt. Heute geht es darum, eine mit Blei gefüllte Hartholzkugel mit Anlauf und mit Hilfe eines Sprungbretts möglichst weit zu werfen. Damit die Kugel nicht auf Nimmerwiedersehen im Matsch verschwindet, wird das traditionell als Feldkampf durchgeführte Klootschießen nur bei Frostwetter ausgetragen und ist somit für die Ostfriesen der einzig wahre Wintersport. Mehr ein Freizeitvergnügen als ein Sport hingegen ist das Klotstockspringen, das allerdings einen praktischen Ursprung haben soll: Ausgerüstet mit langen Pullstöcken sind die Ostfriesen – so die Überlieferung – einst bei der Jagd über Gräben und Siele gesprungen. Mit diesem Stockspringen beanspruchen die Ostfriesen allerdings für sich, Erfinder des Stabhochsprungs zu sein, obwohl es ja eher in die Weite als in die Höhe geht. Aber das nimmt hier niemand so genau …
Ein geradezu britischer Pro-Kopf-Verbrauch und eine Zahnpasta aus Chitin
Ostfriesland wäre nicht Ostfriesland ohne Tee und Granat. Tee gehört für die Ostfriesen zum täglichen Leben. Mindestens drei Minuten muss die ostfriesische Mischung aus kräftigen Assamsorten ziehen und mindestens drei Tassen (pro Mahlzeit) sind Ostfriesenrecht, so heißt es seit eh und je. Bis zu sechsmal am Tag wird eine Teepause eingelegt. Das führt dazu, dass etwa ein Viertel des in ganz Deutschland konsumierten Tees alleine in Ostfriesland getrunken wird. Mit einem Jahresverbrauch von 2,5 Kilogramm Tee pro Kopf ist dieser in Ostfriesland rund zwölfmal höher als im Bundesdurchschnitt, das sind wahrhaft britische Verhältnisse! Tradition hat auch das Fischen der Nordseekrabben. Aber die Nordseekrabbe ist gar keine Krabbe, sondern die kleinste Speisegarnele der Welt. Die hochwertige Delikatesse mit süßlich-nussigem Aroma wird an der Küste »Granat« genannt; ja die ganze Küste nennt sich in Anspielung auf die leckeren Garnelen und die idyllischen Krabbenkutter auch »Costa-Granata«. Sofort nach dem Fang werden die Garnelen noch an Bord mit Seewasser gekocht und bekommen dann ihre typisch rotbraune Farbe. Am besten kauft man sie frisch vom Kutter und pult sie dann selber. Denn wegen der Lohnkosten werden über 80 Prozent der in Ostfriesland gefangenen Krabben nach Marokko zum Pulen gebracht. Krabbenpulmaschinen haben nie die Marktreife erreicht. So ist es fast sicher, dass der Belag des am Fischimbiss frisch gekauften Krabbenbrötchens schon einmal afrikanische Luft geschnuppert hat.
Um die heimische Wirtschaft zu stärken, kam man an der Fachhochschule Emden auf die Idee, ein regionales Produkt zu entwickeln. Was lag näher, als die Krabben mit ins Boot zu holen, genauer gesagt, die überflüssigen Schalen der leckeren Tierchen. Und so wurde – kein Scherz! – unterstützt mit Fördergeldern der EU eine Zahnpasta mit dem Namen »Chitodent« kreiert, und zwar aus dem Chitin der Krabben. Aus den Schalen der Krustentiere wird das helle Pulver Chitosan gewonnen, das Grundbestandteil von Zahnpasta ist. Die Krabbenschalenverwertung wäre für die Region tatsächlich der perfekte ökologische Kreislauf gewesen, scheitert aber an der ökonomischen Wirklichkeit. Denn fast alle im ostfriesischen Wattenmeer gefangenen Krabben werden aufgrund langfristiger Verträge von einem niederländischen Großhändler vertrieben und nach Marokko zum Pulen gebracht. Von dort aus gehen die Schalen als Hühnerfutter bis nach Asien. (Chitodent steht dennoch in den Regalen einiger ostfriesischer Geschäfte, denn mittlerweile vertreibt eine Firma aus dem ostfriesischen Hesel die Zahnpasta, muss den Rohstoff Chitin aber aus China importieren.)
Von Otto Waalkes bis zu den Entdeckern der Sonnenflecken. Die nicht immer unumstrittenen Persönlichkeiten des Flachlandes
Und schließlich sind da noch die Menschen, die lange als irgendwie eigenartig eingeschätzt wurden. Entstanden sind so die Ostfriesenwitze, bei dem zumeist eine vermeintliche Dummheit, nennen wir es Mentalität, der Ostfriesen herausgestellt wurde; längst bevor diese (häufig harmlosen) Jokes durch aggressivere Mantafahrer- oder Blondinenwitze abgelöst wurden. Die in Emden geborenen Komiker Karl Dall und Otto Waalkes haben aus dem Ruf des dümmlich-liebenswerten Ostfriesen auf unnachahmliche Art Kapital geschlagen. Seit Jahrzehnten pflegt vor allem Otto Waalkes das Klischee vom weltfremden Ostfriesen – und das mit großem Erfolg. Laut Statistik kennen 93,7 Prozent der Deutschen Otto. Das ist ein Wert, den nur wenige Spitzenpolitiker jemals erreicht haben.
Das karge und schöne Land hat natürlich auch andere charakterstarke Persönlichkeiten hervorgebracht: beispielsweise Henri Nannen. Der 1996 verstorbene Vollblutjournalist war nicht ganz so bekannt, aber sein »Baby«, die (nicht immer unumstrittene) Zeitschrift Stern, ist nach wie vor in jedem deutschen Kiosk zu finden, und nicht nur dort. Der langjährige Chefredakteur und Herausgeber des Stern war auch ein großer Kunstkenner- und -liebhaber, weshalb er seiner Heimatstadt Emden seine Sammlung moderner Kunst samt Kunsthalle spendierte. Zu bestaunen gibt es vorwiegend Kunst der klassischen Moderne, insbesondere Werke des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit. Glanzstücke des Museums sind Arbeiten von Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Emil Nolde und August Macke. Dadurch machte sich Emden einen Namen als Kulturstadt, die im Konzert der großen Kunstmuseen ein Wörtchen mitreden kann. Ex-Tagesschausprecherin und Moderatorin Eva Herman, ebenfalls eine geborene Emderin, wollte jüngst auch ein Wörtchen mitreden und schrieb 2006 das kontrovers diskutierte Buch »Das Eva-Prinzip« zum Tabuthema Ent-Emanzipation. Aber von Herman spricht heute kaum einer mehr … Andere Ostfriesen sind nicht berühmt geworden, haben aber dennoch Großes geleistet: Beispielsweise der Pastor David Fabricius (1564-1617) und sein Sohn Johannes Fabricius (1587-1615) aus dem kleinen Ort Osteel. Sie beschäftigten sich mit Astronomie und Kartographie und hatten zu ihrer Zeit regen Briefverkehr mit Johannes Keppler. Sie gelten als die Entdecker der Sonnenflecken; David Fabricius hat zudem die erste, durchaus genaue Ostfriesland-Karte gefertigt; sie befindet sich heute im Ostfriesischen Landesmuseum in Emden. Sonnenflecken sind auf den ersten Blick nicht sensationell, damals war das aber im wahrsten Sinne des Wortes ein heißes Eisen, denn nach der klassischen aristotelischen Anschauung war die Sonne vollkommen und zudem war es Lehrmeinung der Kirche, dass die Sonne ähnlich »unbefleckt« sei wie die Jungfrau Maria. Immerhin erinnert seit 1895 ein kleines Grabmal auf dem Osteeler Friedhof im Südbrookmerland an die beiden Astronomen. Und dann war da noch der – fast vergessene – ostfriesische Badewärter Gerrelt Janssen, der zwar nichts entdeckt oder erfunden, aber immerhin die direkte Ahnenfolge des Welfengeschlechts gesichert hat und damit das Königshaus vor dem Aussterben bewahrte. Ein kleines Denkmal erinnert, wenn auch nur unauffällig, an diese Geschichte. Es ist das Ernst-August-Denkmal auf Norderney, das auch Cumberland-Denkmal heißt, weil auch die Könige von Hannover den Titel des Herzogs von Cumberland trugen. 1866 aufgestellt, 1938 zerstört und 2002 mit finanzieller Unterstützung des Welfenhauses wieder errichtet, erinnert es an die Hannoversche Epoche auf Norderney und eben daran, dass im Jahr 1861 der einzige männliche Nachfahre von König Georg V., der damals 16-jährige Kronprinz Ernst-August von Hannover, von Gerrelt Janssen aus den kalten Fluten geholt und vor dem Ertrinken gerettet wurde. Seit jener Zeit werden die Welfen immer von einem Ernst-August regiert, derzeit ist es der als »Prügelprinz« geschmähte Ehemann Carolines von Monaco. Retter Gerrelt Janssen hingegen verstarb nur vier Jahre nach seiner Heldentat, tragischerweise durch Ertrinken.