Ein Artikel von Jürgen Strohmaier, Autor der Neuerscheinung »Nordportugal« (zusammen mit Lydia Hohenberger). Für unseren 14. Newsletter hat sich der Verfasser mit dem Unterschied zwischen rotem und weißem Wein beschäftigt – und ist dabei auf den wichtigsten Vinho Portugals gestoßen, der jedes Jahr 80 Millionen Mal verkauft wird.
Eine Spritztour durch die Weinregion im äußersten Nordwesten Portugals ist immer etwas Besonderes. Doch ein zusätzliches Highlight erhält sie im August und September. Dann balancieren Erntehelfer bis zu sechs Meter über dem Erdboden auf wackeligen Leitern und schneiden mit vorsichtigen Handbewegungen saftige Trauben aus hochgewundenen Rebstöcken heraus. Am Stadtrand von Viana do Castelo, zweifelsohne eine der schönsten Städte des Landes, beginnt die Weinstraße »Rota dos Vinhos Verdes« durch die Provinz Minho, eine hügelige Gartenlandschaft entlang dem romantischen Rio Lima. Sanfte und kräftige Grüntöne in allen Facetten prägen das Bild. Kein Wunder, dass auch der Rebensaft den Namen »Grüner Wein«, »vinho verde«, trägt. Etwa 60 kleine und große Erzeuger haben sich mittlerweile zusammengetan. Sie bieten Verköstigungen an, lassen sich bei der Herstellung über die Schulter schauen und betonen voller Stolz die lange Geschichte ihrer Landgüter.
Oft sind es alte Adelssitze aus den Anfängen Portugals, schmuck eingerichtet, in denen auch Zimmer an Urlauber vermietet werden. Fast jedes Haus, ja eigentlich jedes Feld ist weithin sichtbar von Hängereben eingefasst. Sie streben an Stämmen von Ulmen oder Pappeln, Kirsch- oder Kastanienbäumen empor oder ranken sich an Holzgestellen entlang, die auf schmalen Granitsäulen ruhen. Hübsch anzusehen sind die Laubengänge und im Sommer spenden sie kühlenden Schatten, doch machen die Leiter zum unentbehrlichen Utensil der Weinernte. Oft liefern sie roten Wein, der fast nur durch die Kehlen der Einheimischen rinnt, die den eigentümlich spröden, gerbstoffhaltigen Geschmack genießen.
Dabei ist die weiße Variante des »vinho verde« mit einer Jahresproduktion von beinahe 80 Millionen Litern der mengenmäßig wichtigste Wein Portugals. Seine Spritzigkeit und der niedrige Alkoholgehalt um 9 % machen ihn zum beliebten Sommergetränk: am Strand, zu einem frisch gegrillten Fisch oder einem Eintopf aus Muscheln und Garnelen. Die Bezeichnung »Grüner Wein« im Sinne von jung verdient er sich nicht zuletzt durch eine prickelnde Jugendlichkeit, deren Jahre allerdings rasch gezählt sind; die Frische verliert sich schon nach 18 Monaten Lagerzeit.
Einige Kilometer die Weinroute flussaufwärts ruht das vornehme Landstädtchen Ponte de Lima eingebettet zwischen Bergen. Einst vermuteten die römischen Söldner im Fluss Lima den mythischen Strom Lethes. Sie fürchteten, bei einer Überquerung ihre Heimat und Vergangenheit zu vergessen und mussten von Kaiser Augustus zum Bau der strategisch wichtigen Brücke erst gezwungen werden; diese verlieh dem Ort übrigens seinen Namen. Die runden Bögen wölben sich bis heute kraftvoll über die Fluten. Prunkvolle Herrenhäuser und brunnenbestandene Plätze mit hübschen Straßencafés verbreiten eine theatralische Schönheit und strahlen eine stille Erhabenheit aus. Von solcher Ruhe ist zur Weinlese in der Winzergenossenschaft allerdings wenig zu spüren. Die Bauern warten auf ihren Traktoren laut gestikulierend auf die Annahme ihrer Trauben. Inmitten der Hektik überwacht ein Aufseher das Wiegen der Reben und nimmt die erste Qualitätskontrolle vor. Dann wird alles ordentlich in ein Buch eingetragen, abgestempelt und gegengezeichnet. Und schon verschwinden die Trauben in wuchtigen Tanks aus Beton oder Inox und beginnen ihren alkoholischen Werdegang, um schließlich nach 6 Monaten als fertiger Wein in den Handel zu gelangen.
Sein wahres Paradies wird der Weinreisende jedoch erst jenseits des »Lethe« finden. Kurvenreich führt die Weinstraße durch dunkle Wälder und lichte Weinberge zu den geschichtsträchtigen Kleinstädten Melgaço und Monção an der Grenze zu Spanien. Nur hier erlangt die kleinbeerige Rebsorte Alvarinho ihre vollkommene Reife und liefert eine Art »vinho verde« der Spitzenklasse: dank des sehr fruchtbaren Bodens und der Sonne, die noch ein paar Stunden länger scheint. Der Alvarinho-Wein besitzt mit 11,5 bis 13 % einen höheren Alkoholgehalt und kann fünf Jahre aufbewahrt werden. Nach traditioneller Methode in Holzfässern gekelterte Weine erreichen gar ein Alter von 10 Jahren. »König der Weine« nennen ihn die Einheimischen vielleicht aus verkaufsfördernder Überlegung. Denn selber verschmähen sie Ihre Majestät; schließlich ist der Alvarinho ein Weißwein – und einen solchen mögen sie eigentlich nicht.
Madalena Lima erzählt im Genossenschaftshaus Solar do Alvarinho in Melgaço mit leichtem Schmunzeln die skurrile Geschichte ihres Vaters. Vor 25 Jahren begann er mit dem Anbau der Alvarinho-Traube. Bis dahin hatte er wie seine Nachbarn Maisfelder angelegt und diese mit Rebsorten für den roten »vinho verde« umgrenzt. Seit Kindheit an derbes, bäuerliche Essen gewöhnt, zu dem der rote Tropfen passt, mag er sich im Alter nicht mehr umstellen. So verkauft er nun seinen weißen Alvarinho an moderne Stadtbewohner, die einen leichten Wein bevorzugen. Und selber kauft er vom Nachbarn seinen geliebten roten »vinho verde«. Dieser begleitet ideal die regionale Spezialität »Sarrabulho«, eine Art Schweinegulasch in Blutsauce, garniert mit Mehl- und Blutwürsten und in jedem Restaurant am Orte zu bekommen.