Wer gerade ein Baby hat, wird sich wahrscheinlich weniger angezogen fühlen vom Namen dieses ungewöhnlichen Theaterstücks, das in einem abgedunkelten New Yorker Hotel gegeben wird: Sleep No More. Alle anderen vermuten vielleicht einen Club für Zwanzigjährige. Oder für Citytripper, die die Nacht zum Tag machen. Weit gefehlt: Die Aufführungen sind Teil eines überaus spannenden Hotelkonzepts, das einen einspinnt in eine Geschichte, die man als Gast erkunden soll. New-York-Autorin Dorothea Martin in einem aufregenden Selbstversuch.
Irgendwo in Chelsea mitten im Galerienviertel steht das Hotel McKittrick. Sie sind Hotelgast hier und möchten Ihr Zimmer beziehen? Damit sind Sie nicht allein. Vor der Rezeption hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Um das Hotel betreten zu können, brauchen Sie eine Spielkarte, die Ihnen Eintritt gewährt, ein wenig nach dem Glücksprinzip. Man drückt Ihnen auch eine venezianische Pestmaske in die Hand und gibt strenge Hausregeln mit: Auf keinen Fall dürfen Sie die Maske absetzen, sogar Reden ist streng verboten. Und wenn Ihnen der Besuch hier zu sehr unter die Haut geht, können Sie jederzeit in die Hotelbar flüchten. Noch ahnen Sie nicht, dass das gar nicht so abwegig ist. – Ach ja, lieber Hotelgast, und das Wichtigste: Wenn Sie sich an die Fersen der Menschen heften, die keine Masken tragen, dann können Sie sogar einer Geschichte folgen.
Ein bizarre Atmosphäre, die noch bizarrer wird
Mit diesen Instruktionen werden Sie nun entlassen in ein mehr als schummriges Labyrinth aus sechs Etagen und fast 100 Räumen, durch die Sie sich frei bewegen können. Es dauert eine Weile, bis sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt und Sie Ihre Ratlosigkeit überwunden haben, um beherzt irgendeinen Weg einzuschlagen, am besten weg von allen anderen. Es ist so verdammt dunkel und aus unsichtbaren Lautsprechern dringt auch noch eine Mischung aus Chansons und schrägen Klangeffekten durch die Flure, was die bizarre Atmosphäre schlicht noch bizarrer macht. Die vielen Räume sind mit unglaublicher Liebe zum Detail dekoriert und im Stil der 1930er Jahre gehalten. Es hat etwas von einer surrealen Zeitreise, nur dass Sie mittendrin stehen und alles erkunden dürfen. Da gibt es antiquierte Büros und Schlafzimmer, wo man in Akten stöbern oder in alten Briefen lesen kann. Wer besonders aufmerksam ist, findet sogar die Kurzwahl des Schnurtelefons an der Rezeption heraus und ruft in der Lobby an.
Staub wirbelt auf, wenn Sie durch den mit Erdreich aufgeschütteten Friedhof gehen, Licht und Schatten tauchen einen künstlichen Wald ins Zwielicht, in einem Vestibül steht ein Sarg, der eben noch leer war, aber beim nächsten Vorbeikommen liegt eine Frau darin. Skurril wirken auch das Lazarett oder diese seltsame Apotheke mit ihren ausgestopften Tieren, Kräutern und biologischen Exponaten, die von der Decke baumeln. In einer Badewanne, die mitten in einem großen Raum steht, wird einem vermeintlichen Selbstmörder Blut von der Haut gewaschen. An einer Rezeption befindet sich der Concierge gerade in einem Liebesspiel mit einem weiblichen Hotelgast – oder in einer Prügelei, das kann man nicht gleich erkennen.
Ein Irrlichtern, eine niemals zuvor erlebte Theater-Erfahrung
Im unteren Stockwerk gelangen Sie in einen prunkvollen Ballsaal, in dem plötzlich wie aus dem Nichts ein halbes Dutzend tanzende Paare erscheinen und sich, umrundet von maskierten Besuchern, zum Takt der Musik wiegen, bis eine schwangere Frau zusammenbricht. Sofort löst sich die Gesellschaft in alle Himmelsrichtungen auf und Sie bleiben entweder ratlos zurück oder versuchen den Protagonisten, die sich wieder im ganzen Hotel verteilen, hinterherzujagen. Doch es ist zu dunkel und zu verwinkelt, um ihnen folgen zu können, Sie verlieren die Schauspieler aus den Augen.
Also irrlichtern Sie ziellos weiter, um irgendwo in einem der anderen der Räume wieder Anschluss an die Handlung zu finden. Das will nur schlecht gelingen, denn wo immer Sie erneut auf Action stoßen, platzen Sie mitten in die Szene hinein. Es scheint keinen Anfang und kein Ende zu geben, und genau das ist das Konzept. Bei dieser Theater-Erfahrung wird der Zuschauer gezwungen, die Geschichte ganz allein für sich zu entdecken. Was man erlebt, hängt nur davon ab, wie man sich selbst verhält und welche Rückschlüsse man über das Gesehene zieht. Anhaltspunkte von außen fehlen, denn die Reaktionen der anderen Zuschauer bleiben hinter ihren Masken verborgen.
Egal jedoch, was man tut und empfindet, die Essenz des Schauspiels, der Tanzperformances und Klanginstallationen offenbart sich einfach und schnell. Man erlebt Fragmente einer Handlung, die sich lose an Macbeth anlehnt und wahllos wie ein Traum oder Alptraum aneinanderreiht. Durch die Maske verhüllt, kann man unverfroren und anonym seiner Schaulust frönen, seiner Neugierde und seinen Gefühlen freien Lauf lassen und sogar Teil der Handlung werden. Und je eifriger man erkundet und je mehr Szenen man in diesen drei Stunden Hotelbesuch beiwohnt, desto einleuchtender wird die Dramaturgie.
Die Hotelgäste als zufälliger Teil einer künstlichen Welt
Das Stück, das Sie im Hotel McKittrick erleben, heißt »Sleep No More« und ist eine Produktion der Londoner Theatergruppe Punchdrunk, die mit sog. »Immersivem Theater« experimentiert, einer neuen Theaterform des 21. Jahrhunderts, in der öffentliche Räume (und explizit keine Theaterräume) bespielt werden. Obwohl sich mehrere Hundert Gäste zur gleichen Zeit im Gebäude aufhalten, macht jeder Teilnehmer seine eigene, individuelle Theater-Erfahrung. Die einzelnen Spielszenen werden dreimal wiederholt, ob und – wenn überhaupt – wie oft man sie sieht, ist völlig individuell, der Zufall entscheidet. Das Publikum ist somit nicht nur Teil der Inszenierung, sondern auch Teil dieser künstlichen Welt, die gehörig verstört und doch fasziniert und in ihren Bann zieht. – Zu zimperlich sollte man allerdings nicht sein, es geht schließlich um Liebe und Hass, Freud und Leid, Eifersucht und Schuld, Tot und Verderben.
Eigentlich sollte Sleep No More nur sechs Wochen lang in New York aufgeführt werden, inzwischen sind daraus mehr als drei Jahre geworden. Ein Ende ist nicht abzusehen und einige Kritiker sind der Meinung, dass dies das Theater der Zukunft sei. Es ist auf jeden Fall außergewöhnlich und hat entsprechend großen Erfolg. Darum sollte man sich die Karten rechtzeitig reservieren, aber bedenken Sie: Nach einem erlebnisreichen Tag im Big Apple sind Sie hier weitere drei Stunden pausenlos auf den Beinen. Von wegen Sleep No More: Garantiert werden Sie nach diesem Abend schlafen wie ein Murmeltier.
Reisepraktische Infos:
Information: McKittrick Hotel, 530 W 27th Street zw. 10th u. 11th Avenues, NY 10001, 866-811-4111; E-Mail; mckittrickhotel.com. Tickets ab $ 80.
P.S. Punchdrunk hat auch in London eine Aufführung nach ähnlichem Prinzip am Start: The Drowned Man.