Reportage

Die Gesetze des Profitstrebens.
Ein kritischer Besuch bei Madame Tussaud's.

Ralf Nestmeyer ist ein Kenner des englischen Königreichs. Er hat die beliebten Reisehandbücher »England« (6. Auflage 2008), »Südengland« (3. Auflage 2008) und »London MM-City« (6. Auflage 2009) verfasst. Für den aktuellen Newsletter ist unser Autor in der »Zentrale« von Madame Tussaud's gewesen und war verwundert, wie gedankenlos die wächsernen Abbilder der Politiker und Machthaber ausgestellt werden. Oder würden Sie Mahatma Gandhi und Adolf Hitler in einem Raum vermuten?


Als vor ein paar Monaten in der neu eröffneten Berliner Niederlassung von Madame Tussaud’s ein »Attentat« auf die Wachsfigur von Adolf Hitler verübte wurde und ihr ein 41-jähriger Mann den Kopf abriss, war das Medienecho gewaltig. Tagelang wurde darüber diskutiert, ob man Hitler überhaupt und wenn ja, in welcher Form präsentieren sollte. Die Verantwortlichen bei Madame Tussaud’s wiesen die Kritik von sich und erklärten in einer Stellungnahme, die Ausstellung sei grundsätzlich »unpolitisch«. Hitler stehe für einen »entscheidenden Teil der Berliner Geschichte, der nicht verleugnet werden kann«. Doch handelt es sich bei dem Wachsfigurenkabinett wirklich um eine wertfreie Ansammlung berühmter Persönlichkeiten?


Politische Propaganda mit hohen Eintrittspreisen

Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett ging aus einer 1770 in Paris begründeten Wanderausstellung hervor, die im Jahre 1802, als die Einnahmen aufgrund der napoleonischen Kriege zurückgingen, erstmals nach England kam und dort von Stadt zu Stadt tourte. Schon in dieser Anfangszeit handelte es sich bei dem Wachsfigurenkabinett um keine harmlose, neutrale Darstellung berühmter Herrscher und Politiker, sondern diente vor allem der politischen Propaganda. Mit hohen Eintrittspreisen zielte die Ausstellung hauptsächlich auf die wohlhabenden Gesellschaftsschichten. In den Zeiten, als es weder Fotos noch Filme gab, konnte man durch die Ausstellung der Wachscharaktere die öffentliche Meinungsbildung stark beeinflussen. Aus diesem Grund stand 1803 auch Napoleon im Mittelpunkt der Sammlung, als sich das englische Bürgertum von der Revolution und einer möglichen Invasion bedroht fühlte. Während Napoleon, den die Engländer für seine militärische Brillanz bewunderten, optisch recht gut wegkam, wurden beispielsweise Robespierre und Carrier mit ihren guillotinierten Köpfen zu Bösewichten der Revolution stilisiert.

Die Wachsbildnerei stand aber noch aus einem anderen Grund hoch im Kurs: Mit Hilfe phrenologischer und physiognomischer Theorien versuchte man, von der Kopf- und Schädelform lehrreiche Schlüsse auf Charakter und Verhalten einer Person zu ziehen. So seltsam es heute klingt, es handelte sich um ein wissenschaftliches Genre, das sich auf die Thesen des Züricher Theologen Johann Kaspar Lavater berief (und später durch die Rassenlehren der Nationalsozialisten eine menschenverachtende Renaissance feierte). Lavater hatte in seinen »Physiognomischen Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe« die Behauptung aufgestellt, dass das Wesen eines Menschen an der Gesichtsbildung ablesbar sei. In diesem Sinne war ein Besuch von Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett eine Weiterbildungsmaßnahme, konnte man doch die Gesichtszüge berühmter Persönlichkeiten studieren und mit ihrem Verhalten vergleichen.


Ein kleiner Rundgang durch die beliebteste Attraktion Londons

Jedenfalls: Die anfangs 36 Figuren umfassende Ausstellung wuchs so schnell an, dass sich die als Madame Tussaud bekannt gewordene Marie Grosholtz dauerhaft in London niederließ. Nach Grosholtz‹ Tod (1850) zog die Sammlung 1884 von der Baker Street in die benachbarte Marylebone Road um, wo sie noch heute untergebracht ist. Um auf der Höhe der Zeit zu sein, wurden beständig berühmte Persönlichkeiten in den erlesenen Wachsfigurenzirkel aufgenommen beziehungsweise in ihrem jeweiligen Alterungsprozess wiedergegeben, wobei die Auswahl der Personen stets den Gesetzen des Profitstrebens folgte. Die Anziehungskraft der Sammlung ist ungebrochen groß: Madame Tussaud’s Wachsfigurenkabinett gehört zu den bekanntesten und beliebtesten Attraktionen in London. Knapp drei Millionen Besucher stellen sich jedes Jahr geduldig in die Schlange, um endlich einmal ihren Idolen ganz tief in die Augen sehen zu können …

Zuerst geht es mit dem Aufzug nach oben, wo man im fiktiven Blitzgewitter der Fotografen zu den Stars und Starlets dieser Welt wandert. Alles, was im Pop- und Filmbusiness Rang und Namen hat, ist hier mit seinem wächsernen Abbild vertreten, angefangen bei Leonardo DiCaprio, Nicole Kidman und Orlando Bloom bis hin zu Arnold Schwarzenegger. Auch die Fans von Mel Gibson und Pierce Brosnan kommen selbstverständlich nicht zu kurz. In der Music Zone stehen Elvis, Freddie Mercury, Jimi Hendrix, die Beatles und andere Popgrößen, während in der Sport Zone David Beckham, Tiger Woods, Lance Armstrong, aber auch Boris Becker und Mohammed Ali versammelt sind. Eine kleine Inszenierung der »Pirates of the Caribbean« mit Captain Jack Sparrow gibt es auch, in der Royal Zone warten dann einige illustre Persönlichkeiten aus der Königsfamilie wie beispielsweise Henry VIII. oder Queen Elizabeth I. Wer will, stellt sich neben Diana und lächelt ihr freundlich zu. Glaubensfeste Katholiken können sich kurz darauf vor dem Papst verbeugen.

Geradezu geschmacklos und politisch borniert ist die Abteilung mit den »World Leaders«. Da stehen Mahatma Gandhi und Nelson Mandela einträchtig in einem Raum mit Fidel Castro, Saddam Hussein und Adolf Hitler. Und wenn man nur fünf Minuten wartet, stellt sich irgendein dämlich grinsender Besucher neben den »Führer« und lässt sich mit einem zum Hitlergruß erhobenen Arm photographieren. Die Wachsfigur von Adolf Hitler stammt übrigens aus den 1930er Jahren und »überlebte« im Jahre 1940 zynischerweise einen deutschen Bombenangriff, durch den damals ein Großteil der Sammlung zerstört wurde.

Selbstverständlich rahmen George Bush und Tony Blair einträchtig ein Podium mit der UN-Flagge ein, denn schließlich verkörpern sie ja das Reich des Guten. Kritische Anmerkungen oder weitere Informationen zu den dargestellten Personen fehlen vollkommen, stattdessen wird man aufgefordert, sich für einen Tag als »King of the World« zu fühlen. Jetzt weiß man endlich, was Madame Tussaud’s unter »unpolitisch« versteht.


Lieber essen gehen!

Die Tour führt danach noch zu der auf Gruseleffekte setzenden Chamber of Horrors (Schreckenszimmer). Den Besucher erwartet ein schaurig-kitschiges Szenario, das von einer französischen Guillotine bis hin zu verschiedenen Massenmördern ein breites Spektrum zeigt und durch ein paar »lebendige« Geister aufgepeppt wird. Die erst unlängst eröffnete Abteilung Spirit of London lädt zu einer effekthaschenden Zeitreise in einem Pseudotaxi durch die Londoner Geschichte ein. Insgesamt erinnert das Spektakel mit Great Fire und Swinging London eher an eine langweilige Kinderkarussellfahrt, einzig das Pseudosteuer fehlt, denn dann könnten sich wenigstens die kleinsten Besucher vorstellen, sie würden das Taxi selber lenken. Und wenn sich die Türen von Madame Tussaud’s hinter einem geschlossen haben, dann zweifelt man daran, ob man den happigen Eintrittspreis nicht vielleicht in ein leckeres Menü hätte investieren sollen …


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