Reportage

Das jüdische Fürth.
Eine langlebige Eintracht zwischen Katholiken, Protestanten und Juden

Fürth, das »Fränkische Jerusalem«, wurde mehr als jede andere süddeutsche Stadt von ihren jüdischen Bewohnern geprägt. Zu den bekanntesten jüdischen Bürgern der »kleinen Schwester« Nürnbergs gehören der Schriftsteller Jakob Wassermann (z. B. »Die Juden von Zirndorf«), der Verleger Leopold Ullstein (porträtiert von Sten Nadolny im »Ullsteinroman«) und der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger (dessen Eltern zur Nazizeit emigrierten). Ralf Nestmeyer, Autor unseres soeben in der 6. Auflage erschienenen Reiseführers »Nürnberg/Fürth/Erlangen«, hat sich auf eine historische Spurensuche begeben.


Wer mit offenen Augen durch Fürth schlendert, kann noch an zahlreichen Hauseingängen im oberen Drittel des rechten Türstocks die Stelle erkennen, an der sich einst eine Mesusa befand. Diese kleine Kartusche, die traditionell ein Pergamentröllchen mit einem Bibelzitat enthält und beim Betreten des Hauses geküsst oder berührt wird, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass in dem Haus eine jüdische Familie gelebt hat. Eher verborgen sind hingegen die jüdischen Ritualbäder, die im Keller mehrerer Privathäuser erhalten sind. Auch das Haus in der Königstraße, in dem sich das Jüdische Museum befindet, besitzt eine solche Mikwe. Jüdische Frauen mussten dem Talmund zufolge nach ihrer Periode in fließendem Wasser beziehungsweise im Grundwasser der Mikwe untertauchen, um sich ihre rituelle Reinheit zu bewahren.


Das politische Machtvakuum Fürths

Begünstigt wurde die dauerhafte Ansiedlung von Juden durch die komplizierten politischen Machtverhältnisse in der Kleeblattstadt. Jahrhundertelang lebten die Fürther nämlich in einem Machtvakuum, das allerdings für eine expansive Stadtentwicklung nicht gerade förderlich war. Drei »Herren«, das Bamberger Domkapitel, der Markgraf von Ansbach und der Rat der Reichsstadt Nürnberg versuchten in Fürth, wo ihre Territorien teilweise Haus an Haus aneinandergrenzten, ihre Ansprüche geltend zu machen.
Schon im 15. Jahrhundert gab es in Fürth ein »Judengässlein«, aber erst als die Nürnberger 1499 ihre Juden endgültig vertrieben hatten, sind sie in Fürth in größerer Zahl ansässig geworden. Der mit der Reichsstadt in ständiger Rivalität lebende Markgraf von Ansbach ergriff die Gelegenheit, aus der Vertreibung der Juden aus Nürnberg Profit zu schlagen und siedelte sie in Fürth an. Neben einem hohen Schutzgeld versprach er sich auch eine Belebung des Fürther Wirtschaftslebens auf Kosten der Nürnberger. Es dauerte nicht lange, bis sich der Bamberger Bischof von der Idee des Markgrafen begeistert zeigte und ihm nacheiferte …
Im Laufe des 17. Jahrhunderts etablierten sich die Fürther Juden: 1607 wurde der erste Rabbiner berufen und der Friedhof angelegt, nur zehn Jahre später entstand die erste von insgesamt sechs Fürther Synagogen, 1653 ein Krankenhaus. Die mit Hilfe der aus Wien vertriebenen Juden gegründete Talmudhochschule wurde zu einem Mittelpunkt des geistigen jüdischen Lebens in Deutschland: ihre Absolventen erhielten Rabbinatsstellen in ganz Europa. Mehr als ein Dutzend jüdischer Druckereibetriebe vertrieben religiöse Schriften von Fürth aus in alle Teile Europas.
In ihrer Blütezeit zählte die Talmudhochschule mehrere hundert Schüler, darunter auch Mayer Amschel Rothschild, der Stammvater der berühmten Rothschilds. Als »Zentralpunkt der Verfinsterung und des Aberglaubens« verschrien, verfügen die Behörden des Königreichs Bayerns im 19. Jahrhundert die Schließung der einst so bedeutenden Lehranstalt.


Niemals ein Ghetto, dafür zahlreiche Privilegien

Im Gegensatz zu anderen Städten hat in Fürth niemals ein jüdisches Ghetto existiert; jüdische Bauten sind daher über die gesamte Innenstadt verteilt. In vielen deutschen Städten wurden die Juden mit Verboten und Schikanen in die Isolation gedrängt und die Gewerbetreibenden ihrer Existenzgrundlagen beraubt; nicht so in Fürth. Hier hatten die Juden schon bald einen entscheidenden Anteil am Gewerbeleben, so dass der Fürther Aufschwung vom Dorf zur Industriestadt fraglos zu einem bedeutenden Teil der jüdischen Bevölkerung zu verdanken ist.
In Anbetracht dieser Verdienste konnten es sich die Fürther Juden sogar leisten, gegen den Nachtwächter zu protestieren, der seinen Ruf mit »Ihr lieben Christen …« begann. Mit Erfolg: Bereits 1693 wurden die Stunden mit der Formel »Ihr lieben Herren …« angekündigt.
Die Fürther Juden erhielten durch das 1719 erlassene »Reglement für die gemeine Judenschaft« zahlreiche Privilegien, die ihnen eine in Deutschland einzigartige Stellung sicherte. Sie besaßen nicht nur das aktive und passive Wahlrecht zum Bürgermeisteramt, sie konnten auch zwei Deputierte in die christliche Gemeinde entsenden. Im 18. Jahrhundert war fast jeder vierte Fürther jüdischen Glaubens, der Reiseschriftsteller Wilhelm Heinrich Wackenroder nannte Fürth im Jahre 1793 gar eine von »Juden wimmelnde Stadt«.
Jahrhundertelang lebten Juden und Christen in Fürth mehr als einträchtig neben- und miteinander. So unterstützten die Fürther Juden mit ihren Spenden sowohl den Bau der katholischen Kirche »Zu Unserer Lieben Frau« als auch jenen der protestantischen Auferstehungskirche. Der Amtsarzt Adolf Mair lobte das tolerante Klima 1861 in den höchsten Tönen: »Rühmlichst hervorzuheben ist die achtungswerte Duldung, gegenseitige Opferwilligkeit und unbegrenzte Wohltätigkeit – Produkte der kaum irgendwo wieder so vorhandenen Eintracht zwischen Katholiken, Protestanten und Juden.«


Eine Vorreiterrolle in der Judenemanzipation

Das Jüdische Museum zeigt anspruchsvolle Wechsel- ausstellungen
Das Jüdische Museum zeigt anspruchsvolle Wechsel- ausstellungen

Eine Vielzahl sozialer und kultureller Einrichtungen wie das Nathansstift, die Krautheimerkrippe und das Berolzheimerianum wurden ebenfalls durch jüdische Stiftungen begründet. Die kunstsinnige jüdische Bürgerschaft brachte auch mehr als die Hälfte der Spenden auf, die für das 1902 eröffnete Theater gesammelt wurden. Der monumentale Centaurenbrunnen am Bahnhofsplatz ist eine Schenkung von Königswarter und Morgenstern.
In Bezug auf die Judenemanzipation spielte Fürth in Bayern seit jeher eine Vorreiterrolle: In Fürth wurde 1843 mit Dr. Grünsfeld nicht nur der erste jüdische Rechtsanwalt zugelassen, auch der erste jüdische Landtagsabgeordnete, ein Dr. Morgenstern, sowie der erste jüdische Schulrektor und der erste jüdische Richter des bayerischen Königreichs lebten in hier (und nicht etwa in der wenige Kilometer entfernten Konkurrenzstadt).
Im 19. und 20. Jahrhundert haben die Fürther Juden zahlreiche bekannte Personen hervorgebracht, so beispielsweise den Verleger Leopold Ullstein, den Schriftsteller Jakob Wassermann und mit dem 1923 geborenen Henry Kissinger sogar einen ehemaligen US-Außenminister, der bis heute die Ergebnisse »seines« Fürther Fußballvereins mit Interesse verfolgt.
Jakob Wassermann – einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit – erinnert sich in »Mein Weg als Jude und Deutscher«: »Genau betrachtet, war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit, Fremdheit und Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich hierzu auch nur auf ein Wort, eine Phrase, auf falschen Tatbestand stützte.«
Mehrere Jahre lang lebte Wassermann mit seinen Eltern im ersten Stock über einer Gaststätte, dem noch heute existierenden »Gaulstall« in der Blumenstraße. Inmitten eines Arbeiterviertels aufgewachsen, war er von Kindesbeinen an mit den Schattenseiten der industriellen Revolution konfrontiert. Später charakterisierte er Fürth als eine »gartenlose Stadt des Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hammergestampfs, der Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier, des Dichtbeieinander kleiner und kleinlicher Leute, der Luft der Armut …«


1000 Grabsteine erzählen vom jüdischen Leben

Verwunschen – der Jüdische Friedhof von Fürth
Verwunschen – der Jüdische Friedhof von Fürth

Am eindrucksvollsten zeugt der 1607 angelegte, alte jüdische Friedhof von der Größe der jüdischen Gemeinde. Da bei den Juden keine Exhumierung praktiziert wird, sind trotz nationalsozialistischer Schändung noch über 1000 Grabsteine erhalten. Bis 1906 begrub die jüdische Gemeinde hier ihre Toten. Der Friedhof ist übrigens auch in die Literaturgeschichte eingegangen: Lion Feuchtwangers Romanheld »Jud Süß« Oppenheimer findet seine letzte Ruhestätte auf dem Fürther Judenfriedhof.
Ein Besuch des Friedhofs ist nur im Rahmen einer Führung möglich. Wer will, kann mit einem Blick über die Sandsteinmauer vorlieb nehmen. Dies ist an zwei Stellen möglich: Am Eingangstor in der Schlehengasse und an der Ecke zwischen der Bogen- und der Weiherstraße. Von der Schlehengasse aus lässt sich auch ein Eindruck von den Zerstörungstaten der Nationalsozialisten gewinnen.
Mitten im Friedhof, dort, wo heute eine freie Wiese zu sehen ist, legten die Nazis während des Krieges überflüssigerweise einen Löschteich an – die Rednitz ist nur wenige Meter entfernt! – und beseitigten die »störenden« Grabsteine. Ein Teil der Grabsteine wurde zum Bahnhof transportiert, um in »Heldengedenksteine« umgearbeitet zu werden; dazu kam es glücklicherweise nicht, sie konnten nach Kriegsende zurückgeführt werden.


Die brutale Zerstörung des Gemeindelebens durch die Nationalsozialisten

Wie in anderen deutschen Städten so machten die Nationalsozialisten auch in Fürth jegliches Gemeindeleben unmöglich: Am 9. November 1938 brannte neben mehreren anderen Häusern auch die Hauptsynagoge. Von den rund 2000 Fürther Juden gingen drei Viertel in die Emigration, darunter auch die Eltern von Henry Kissinger.
An die Schrecken der nationalsozialistischen Vergangenheit erinnert seit 1986 der Synagogengedenkstein des in Fürth lebenden japanischen Künstlers Kunihiko Kato. In der Geleitsgasse weist das Denkmal auf den »jüdischen Schulhof« hin – die Synagoge wird im Jiddischen »Schul« genannt –, dem einstigen geistigen Zentrum der Gemeinde. Der sich einst östlich der Geleitsgasse erstreckende Komplex bestand aus der Hauptsynagoge, einigen kleineren Synagogen, der Bibliothek, der Gemeindekanzlei, der Talmudhochschule sowie einem jüdischen Ritualbad. In der sogenannten »Reichskristallnacht« wurde der gesamte Komplex ein Opfer der Flammen, wobei sich der NS-Oberbürgermeister Jakob besonders hervortat, indem er die Löschversuche der Feuerwehr »erfolgreich« verhinderte.
Eines der traurigsten Kapitel der Fürther Geschichte ereignete sich in der Hallemannstraße 2. Dort, wo sich heute das Zentrum der kleinen jüdischen Gemeinde in Fürth, die Synagoge, befindet, war seit 1868 das jüdische Waisenhaus untergebracht. Es wurde 1763 als erste Einrichtung seiner Art in Deutschland gegründet. Anfangs nur für männliche Waisen gedacht, nahm es seit 1884 auch Mädchen auf. In der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 blieb das Waisenhaus zwar noch verschont, aber am 22. März 1942 wurden die letzten 33 Waisenkinder zusammen mit dem Personal, dem Leiter des Waisenhauses, Dr. Isaak Hallemann, und dessen Familie in das Vernichtungslager Izbica bei Lublin deportiert; keiner von ihnen erlebte das Ende des Zweiten Weltkriegs.
An die Waisenkinder und Dr. Isaak Hallemann, der seine Schützlinge trotz Fluchtmöglichkeit nicht verlassen hatte, gedenkt eine Tafel im Flur des Hauses. Hallemann gehörte zu den insgesamt 498 Fürther Juden, die in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern den Tod fanden. Von der viel gerühmten Fürther Toleranz war in jenen Jahren nichts mehr zu spüren.


Informative Internetadressen:


Literaturtipps:

Lion Feuchtwanger, Die Juden von Zirndorf, Roman, 282 Seiten, Ars Vivendi, Cadolzburg 1995.

Lion Feuchtwanger, Jud Süß, 540 Seiten, Aufbau, Berlin 2002.

Sten Nadolny, Ullsteinroman, 494 Seiten, Ullstein, Berlin 2004.

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