Ein Artikel von Marcus X. Schmid, dem Autor unserer Reisebücher über Korsika (6. Auflage 2005) und Südwestfrankreich (5. Auflage 2005). Heute stellt er ein Buch über den französischen Marktleader der Travel Guides vor – ein Anlass über sein Metier als Autor nachzudenken.
Welcher Verleger von Reisebüchern träumt nicht davon: die unbestrittene Nummer Eins zu sein, zumindest im eigenen Land? Während in Deutschland die Konkurrenz von Individual-Reiseführern das Geschäft belebt, hat bei unserem französischen Nachbarn »Le guide du routard« die Nase vorn. Die Bücher mit dem forschen Globetrotter auf dem Cover liegen in der »Maison de la presse« (eine Mischung von Buch-, Zeitungs- und Schreibwarenladen) gleich stapelweise auf, fehlen weder am Bahnhofskiosk noch am Flughafen. Der Routard ist in Frankreich ein Mythos, Routard-Chef Philippe Gloaguen pflegt von der großen »Routard-Familie« zu reden – und seine Leser dabei kumpelhaft zu umarmen. Nun hat der Mythos ein paar sehr böse Kratzer abbekommen. Der Journalist Baudouin Eschapasse wartet in seinem im März 2006 erschienenen Buch »Enquête sur un guide de voyages dont on doit taire le nom« (»Untersuchung über einen Reiseführer, dessen Namen man verschweigen muss«) mit Enthüllungen auf, nach deren Lektüre sich manches Mitglied der Routard-Familie die Augen reiben wird.
Eschapasse erzählt nicht nur viel Pikantes aus den legendären Gründerzeiten des Routard, er deckt auch den Widerspruch von kommerziellen Interessen des Herausgebers und Anspruch des Lesers auf Information auf, und was den Schreiber dieser Zeilen vor allem interessiert: Eschapasse dokumentiert, wie diese angeblich jährlich überarbeiteten Reiseführer zustandekommen bzw. zusammengeschrieben werden.
Ein einziger Autor für weit über 100 Bücher oder Zeilenschreiber für Gloaguen
Die Guides du Routard haben alle einen einzigen Autor. Der Mann heißt Philippe Gloaguen und kassiert vom Großverleger Hachette, bei dem die Routard-Reihe erscheint, die Autorenhonorare, die bei den riesigen Auflagen recht fett ausfallen dürften. Natürlich hat Gloaguen die weit über hundert Reiseführer nicht alle selber geschrieben, und schon gar nicht kann er sie ganz allein jährlich auf den neusten Stand bringen. Zu diesem Zweck engagiert er ein Heer von sogenannten »pigistes«, was man auf Deutsch mit »Zeilenschreiber« oder »Zeilenschinder« wiedergeben kann. Der »pigiste« bekommt einen klaren Auftrag und ein Merkheft mit auf die Recherchereise, das ihn unbarmherzig an seine Pflichten erinnert, falls es ihn an einem schönen Strand gelüsten sollte, eine Pause einzuschalten.
Wie sieht der Arbeitstag eines »pigiste« aus? Eschapasse zitiert aus der Broschüre, die ihm auf den Weg mitgegeben wird: »Morgen: Tourismusbüro, dann Besuch der Hotels und der Museen der Umgebung. Mittag: Besuch der Restaurants und Mittagessen. Nachmittag: Sehenswürdigkeiten und Museen. Spätnachmittag: Bars. Abends: Restaurants und Bars. Später: Nachtlokale, Diskos.« Für den Besuch des Tourismus-Büros werden ein bis zwei Stunden veranschlagt, damit die dort Angestellten den alten Text im Buch auf Richtigkeit und Aktualität überprüfen können. Eine Hotelrecherche ist in 10 Minuten zu machen. Um einen Eindruck von möglichst vielen Restaurants zu bekommen, ist es vorteilhaft, das ausgewählte Etablissement nach dem ersten Gang zu verlassen, den Hauptgang woanders einzunehmen und zur Nachspeise ein drittes Lokal aufzusuchen. So hat man gleich drei Restaurants »getestet«. Einer Disco hat man in 15 Minuten auf den Puls gefühlt, dann – Party ade – ab ins Hotelbett, denn morgen ist der nächste Arbeitstag. Für die Aktualisierung von Reisebüchern im Inland werden 8-10 Tage veranschlagt (4-5 Tage bei Städteführern), für Ausland gelten 15-18 Tage als Regel. Nicht selten bezahlt der Routard sogar ein Flugticket für einen Begleiter, damit dieser den Mietwagen durch die fremde Großstadt steuern und mit laufendem Motor in der zweiten Reihe warten kann, während der »pigiste« schnell ein Hotel »überprüft«. Zeit ist schließlich Geld, und Parkplatzsuche kostet Zeit.
Ein Drohbrief auf dem Buchumschlag
Für die Textbearbeitung nach einer zweiwöchigen Aktualisierungsrecherche kalkuliert Routard laut Eschapasse rund 10 Tage. Hat der arme Mann sein Recherche-Pensum nicht geschafft, so schreibt er zuhause dann aus den Hochglanzbroschüren des Tourismus-Büros den Rest zusammen oder sucht in Reiseführern anderer Verlage um Rat nach. Die Textqualität spielt bei diesem Tempo eine untergeordnete Rolle, die Redaktion glättet notfalls zum kumpelhaft-uniformen Routard-Stil. In der Neuauflage wird dann die mühselige Arbeit des Rechercheurs irgendwo in den einleitenden Seiten freundlich verdankt. War er gut und verlagskonform genug, so hat er die Chance, erneut eingesetzt zu werden. Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen viele »pigistes« oft nach wenigen Jahren ausgebrannt sind. Sie werden von der Routard-Maschine ausgespuckt, sie sind ersetzbar …
Das Buch von Eschapasse gibt zu denken. Der Verfasser dieser Zeilen empfiehlt es den Verlegern von Reisebüchern, ihren Autoren und auch den Lesern – und ist nachgerade froh, dass er vom Verlag als Autor mit Eigenverantwortung gehandelt wird und nicht als »pigiste« – den Büchern kann es nur gut bekommen.
Anmerkung zum etwas umständlichen Titel: Der Rechtsanwalt von Routard-Chef Gloaguen hat dem Verlag einen Prozess angedroht hat, falls der Name »Routard« im Titel des Buchs erscheine. Der Drohbrief ist auf dem Buchumschlag zu lesen.
Informationen:
Baudouin Eschapasse, »Enquête sur un guide de voyages dont on doit taire le nom«, Editions du Panama, 282 Seiten, 18 €.