Christian Gehl, Autor unserer Neuerscheinung »Bulgarien – Schwarzmeerküste« ist für die 13. Ausgabe des Newsletters den Ursprüngen des griechischen Dionysos-Kultes nachgegangen, der in einem kleinen bulgarischen Dorf bis heute zelebriert wird. An jedem 21. Mai und/oder 3. Juni gehen die »Nestinari« mit nackten Fußsohlen über glühende Kohlen – bis sich die Anspannung in einem Volksfest löst.
Im Südosten Bulgariens, 25 km vor der Küste, liegt Balgari, ein kleines, äußerlich unscheinbares Dorf, das dennoch eine ganz eigentümliche Ausstrahlung besitzt: Es ist eine arme Gegend, viele Menschen leben hier nicht mehr, die Schule steht verlassen da, das Kirchentor ist verriegelt – und vielleicht deswegen werden die aufgeregt herumschreienden Jugendlichen, die mit ihrem Leih-Jeep den Dorfplatz gestürmt haben, plötzlich ganz still. Minutenlang scheint es, als würden sie die Luft anhalten, dann drückt der Fahrer wieder aufs Gas, die Spannung löst sich und das ehemalige Armeefahrzeug rast mit seinen wieder selbstbewusst lärmenden Insassen davon.
Es ist eine nur als mystisch zu bezeichnende Stimmung, die sich hier, mitten im Strandža-Gebirge, beinahe mit Händen greifen lässt. Vor zehn Jahren wurde das hügelige Waldgebiet zum Schutzgebiet erklärt und das zu Recht: Die Natur ist berauschend. Doch sie ist es nicht allein: Vor etwa 3000 Jahren entstand hier der mächtige Dionysos-Kult. Seine ersten Priester sollen die thrakischen »Bessen« gewesen sein. Mit ihren ekstatischen Tänzen und den orgiastischen Festgelagen müssen sie die weiter südlich lebenden Griechen derart beeindruckt haben, dass diese den Glauben kurzerhand übernahmen. Später entwickelte sich daraus die attische Tragödie. Mit dem Aufkommen des zahmeren Christentums wurden die wilden Kulthandlungen allerdings mehr und mehr verdrängt.
Es gibt jedoch Forscher, die behaupten, dass eine Spielart der dionysischen Religion die Zeiten überdauert hat: der Tanz auf glühenden Kohlen. Als Touristenattraktion ist er zwar in vielen Badeorten populär – nicht nur in Bulgarien –, doch als kultische Handlung wird er nur noch in Balgari zelebriert. An jedem 21. Mai und/oder 3. Juni, an den Feiertagen der Heiligen Konstantin und Elena, treten die Feuertänzer kurz nach Einbruch der Dunkelheit auf den großen Platz vor der Kirche. Schon Stunden vorher haben sie sich im Haus des Haupttänzers zusammengefunden, in dem eine kleine Kapelle zu Ehren der beiden Heiligen eingerichtet ist. Ein Trommler läutet den Beginn des Rituals ein. Die Feuertänzer, meist ein Mann und zwei Frauen, nehmen die Ikone auf und gehen zu einer Quelle, die den Namen der Heiligen trägt. Auf dem Weg lassen sich die »Nestinari«, die meist aus einer gemeinsamen Familie stammen, von den monotonen Trommelschlägen langsam in Trance treiben.
Inzwischen wurde bereits ein großes Feuer auf dem Dorfplatz entfacht. Wenn die Tänzer von der Quelle zurückkehren, ist es schon fast niedergebrannt. Jetzt beginnt jener Teil des Rituals, auf den die Dorfgemeinschaft und auch viele Schaulustige aus den Küstenbadeorten bereits seit Stunden warten. Die Lichter der Straßenlaternen gehen aus, die Menschen nähern sich schweigend der Feuerstelle, nur die monotonen Schläge des Trommlers sind noch zu hören.
Mehrmals umkreisen die Tänzer die glühenden Kohlen, die Ikone der beiden Heiligen hoch vor sich hertragend. Dann, vielen Menschen entringt sich unwillkürlich ein Angstschrei, treten sie entschlossen in die Kohlen und beginnen in rhythmischen Bewegungen darauf im Kreis zu tanzen. So bitten sie die Heiligen um eine reiche Ernte und die Abwehr alles Bösen – ein zutiefst heidnischer Glaube, der sich durch die Ikone mit dem Monotheismus des Christentums versöhnt findet.
Die Gesichter der Tanzenden sind aschfahl, ihre Lider halb geschlossen. Nach mehreren Runden treten die »Nestinari« aus dem Feuerkreis, ihre Fußsohlen sind vollkommen unversehrt. Es dauert Minuten, bis die Umstehenden aus dem erstarrten Schweigen wieder herausfinden. Die Anspannung löst sich schließlich in einem Volksfest, das bis in die frühen Morgenstunden andauert. Im Hintergrund verglimmen langsam die Holzkohlen, immer wieder nähern sich Menschen und sehen ungläubig in die Funken.
Informationen:
Die Bulgaren feiern die Heiligen Konstantin und Elena an zwei Tagen, am 21. Mai und am 3. Juni, daher finden meist auch zwei Feuertänze statt. Sicher ist das jedoch nicht, die Entscheidung ist durchaus wetterabhängig. Wer die »Nestinari« nicht verpassen möchte, sollte deshalb am besten bei der Naturparkdirektion in Malko Tarnovo anrufen, Tel.: 0052-(0)592-2896 oder (0)592-2229.
Balgari erreicht man über die Küstenstraße südlich von Burgas, bei Carevo in Richtung Istanbul abbiegen.