Reportage

Zwischen Haushaltsauflösungen und prominenten Überraschungsgästen

Museumsbesucher in vielen Ländern der Welt staunen über die Gabe des berühmten Pieter Bruegel d. Ä., die Menschen seiner Umgebung in Meisterwerken von ausdrucksstarker Symbolik zu porträtieren. Wer genauer hinsieht, findet auch heute noch diesen rustikalen Menschenschlag vor: im Marollenviertel, wo der Meister selbst lebte. Unsere Belgien-Expertin Petra Sparrer, die gerade ihr Brüsselbuch in der 4. Auflage 2013 veröffentlicht hat, schaute sich in der EU-Metropole auf den Spuren von Bruegel um.


»Die Sau entfernt den Zapfen« (soll heißen »Nachlässigkeit rächt sich«) oder »Er kann nicht von einem Brot zum anderen gelangen« (sprich »Er kommt nicht mit seinem Geld aus«). Mehr als 100 solcher Redensarten hat Pieter Bruegel d. Ä. auf seinem Gemälde »Die Niederländischen Sprichwörter« (Berliner Gemäldegalerie) dargestellt. »De Drol«, den Drolligen, oder »Bauernbruegel« nannte man den Meister der flämischen Renaissance. Als hätte er es vorausgesehen, malte er, nachdem er 1563 nach Brüssel gezogen war, den Turmbau zu Babel: winzige, sprachverwirrte Menschen, gescheitert an einem riesigen Turm in bäuerlicher Landschaft. Zur heutigen EU-Metropole mit Bewohnern aus fast 180 verschiedenen Nationen passt dieses Motiv besser denn je.


Eine Diagnose nach 400 Jahren

Multikulturelles Publikum im Straßencafé Ste Catherine. (Foto: Petra Sparrer)
Multikulturelles Publikum im Straßencafé Ste Catherine. (Foto: Petra Sparrer)

Wie kein Zweiter bannte Bruegel das Absurde im menschlichen Verhalten und die Gesichter der Menschen in seiner Umgebung auf die Leinwand, oft mit den derben Zügen der Bauern aus dem Pajottenland vor den Toren Brüssels. Genaues Beobachten war seine Stärke. Ob er gar Medizin studiert hat? Den französischen Arzt Antoine Torrilhon hätte dies nicht gewundert: Ihm gelang es, die Augenleiden der Personen auf Bruegels Bild »Der Blindensturz« (1568) genau zu diagnostizieren, und dies rund 400 Jahre nach seiner Entstehung. Einen weißen Film auf der Hornhaut deutete der Arzt als Leukom, auch die Folgen unbehandelten grünen Stars erkannte er auf dem Gemälde. »Wenn aber der Blinde den Blinden führt, fallen beide in die Grube« – Matthäus 15, Vers 14 hatte Bruegel zu diesem möglicherweise kirchenkritischen Werk zum Thema Irrglauben inspiriert.
Richtig berühmt wurde Bruegel erst posthum, international bedeutende Museen kauften seine Werke. In Brüssels Musées Royaux des Beaux-Arts am Kunstberg hängen »Die Volkszählung von Bethlehem« und »Landschaft mit dem Sturz des Ikarus«. Und in den Marollen, wo der Künstler sich niederließ, ist seit eh und je das Brüsseler Volk zu Hause.


Der Volksmaler und das Marollenviertel

Beim Brussels Jazz Marathon. (Foto: Petra Sparrer)
Beim Brussels Jazz Marathon. (Foto: Petra Sparrer)

Wann und wo genau Pieter Bruegel d. Ä. geboren wurde, weiß niemand. Er lebte und arbeitete lange Zeit in Antwerpen und wie viele Künstler seiner Zeit in Italien. Als er in Brüssel die 18-jährige Mayken ehelichte, die Tochter seines Antwerpener Lehrmeisters Pieter Coecke van Aelst, soll er etwa 30 Jahre alt gewesen sein. Sicher ist: Von 1563 bis zu Bruegels Tod im Jahr 1569 wohnte das Paar in Brüssel – zusammen mit der Schwiegermutter, die selbst Malerin war. Zu besichtigen ist das Haus in der Rue Haute 132 im Marollenviertel nicht. Doch wer durch die Antiquitätenläden in der Nachbarschaft streift, begegnet Menschen, die schon seit Generationen in den Marollen verwurzelt sind.
Der Name des Viertels leitet sich von einer Marianischen Kongregation ab. Diese kirchliche Gemeinschaft bekehrte Prostituierte und half Menschen in sozialen und gesundheitlichen Schwierigkeiten. Erst 1870 bekamen die Marollen fließendes Wasser. Zwar ist es nicht mehr wie früher, das Viertel der Bettler und leichten Mädchen, doch manch alteingesessener Bewohner könnte rein optisch in ein Bruegel-Gemälde passen. Und in der Nachbarschaft hält man zusammen. Mit der Cité ouvrière Hellemans entstand 1912 sogar ein mustergültiges Beispiel für sozialen Wohnungsbau, mit dem sich die aktuellen Plattenbauten zu Füßen des Justizpalasts nicht messen können. Für heutige Verhältnisse kurios ist das Museum der sozialen Wohlfahrt in der Rue Haute 298 A. Auf einem Verwaltungsflur des Krankenhauses St-Pierre zeigt es wertvolle Bestände aus dem Besitz von Wohlfahrtsvereinigungen aus dem 16. Jahrhundert, der Zeit Pieter Bruegels.


Rustikaler Menschenschlag, prominente Überraschungsgäste und eine Tiersegnung

Auf dem Flohmarkt im Marollenviertel. (Foto: Petra Sparrer)
Auf dem Flohmarkt im Marollenviertel. (Foto: Petra Sparrer)

Seit eh und je gelten die Marolliens als feierlustig und renitent. Wer den rustikalen Brüsseler Menschenschlag noch beim Plausch an der Straßenecke oder beim Feilschen auf dem Trödelmarkt antreffen möchte, muss sich allerdings beeilen. Die Gentrifizierung schreitet auch hier voran. Steigende Mieten und zunehmende Spekulation mit Wohn- und Geschäftsflächen vertreiben die bereits aussterbenden Ureinwohner.
Ihre Sprache, das »Brusselier«, ist eine Mischung aus Wallonisch und Flämisch mit spanischen Einflüssen. Auf dem täglichen Flohmarkt der Marollen an der Place du Jeu de Balle ist sie immer seltener zu vernehmen. Vormittags weist einem das Stimmengewirr der Trödler, Käufer und Schaulustigen den Weg. Ein buntes Völkergemisch tummelt sich heute zwischen Akkordeonklängen, antiken Stühlen, Spiegeln mit Goldrahmen oder einfach auf dem Boden ausgebreitetem Nippes von Haushaltsauflösungen oder aus Pfandhäusern. Die meisten Händler kennen sich: Manche kamen schon mit ihren Großvätern hierher, andere reisen mehrmals pro Woche aus der Umgebung an.
Am Vorabend des belgischen Nationalfeiertags (21. Juli) ist die Place du Jeu de Balle Schauplatz des Bal national. Zu dieser Gelegenheit mischen sich Alt und Jung der verschiedenen Kulturen der belgischen Hauptstadt, hören gratis Bands und tanzen im Freien. Fernsehteams und Zeitungsfotografen sind zur Stelle, denn stets sind auch prominente Überraschungsgäste zu erwarten. Als das Enfant terrible Prinz Laurent 2011 nicht zu den offiziellen Feierlichkeiten des Folgetags eingeladen war, nahm er mit Ehefrau Prinzessin Claire und den Kindern auf dem Marollenball ein Bad in der Menge. Auch Brüsselbesucher sollten den Termin auf ihrem Reisekalender mit einem Sternchen versehen.

Die beliebte Tiersegnung auf der Place du Jeu de Balle. (Foto: Petra Sparrer)
Die beliebte Tiersegnung auf der Place du Jeu de Balle. (Foto: Petra Sparrer)

Ebenso verdient der erste Sonntag im Oktober ein Kreuzchen. Am Tag des Heiligen Franz von Assisi wird auf der Place du Jeu de Balle vor dem Tor der Kirche Immaculée Conception ein kurioser Brauch zelebriert. Vor allem bei den alten Bewohnern und den Kindern der Marollen ist er beliebt, und Bruegel hätte hier wohl auch seine Freude gehabt. Bei der Bénédiction des Animaux, der Segnung der Haustiere, lohnt es sich, Mäuschen zu spielen. Tierhalter des Viertels bringen ihre Hunde und manchmal auch Katzen, Hamster, Meerschweinchen und Kanarienvögel auf das Podest vor der Kirche. Man freut sich über den Segen mit Spruch und spritzendem Weihwasser und begießt die tierfreundliche Tradition und die erwünschte Hilfe des tierischen Schutzpatrons anschließend munter in den Kneipen am Platz. Organisator ist der Verein Les Amis du Vieux Marché.


Bruegels Ehe- und Gedächtniskirche

Die Frittenbude Friture Pitta de la Chapelle auf dem Vorplatz zieht heute mehr Pilger an als die Notre-Dame de la Chapelle am Ende der Rue Blaes. Aber manche Kunstliebhaber pilgern immer noch in ihre Grabkapelle Notre-Dame du Rosaire. Man dachte lange Zeit, hier lägen die Gebeine von Pieter Bruegel d. Ä. und seiner Ehefrau Mayken. Doch es erinnert nur eine marmorne Gedenktafel mit Grabinschrift an das Paar, das sich in der Kirche 1563 das Ja-Wort gab.
Das Südportal an der Außenseite ist auch mit einer Frittentüte in der Hand den Blick nach oben wert. An einem Fries sowie an Stützmauern oberhalb des Chors sind Fratzen, grimassierende Sünder und wasserspeiende Köpfe unheimlicher Höllenwesen zu entdecken: Darstellungen des Bösen, vor denen die Menschen des Mittelalters und auch Bruegels Zeitgenossen noch erschauerten. Wer nun erst richtig Appetit bekommen hat: Urige Küche gibt es im Restobières in der Rue des Renards. Dank der Sammelleidenschaft des Wirts Alain Fayt laden historische Werbetafeln, Fotos der Königsfamilie, Töpfe, Pfannen, Dosen und andere antiquarische Schätze hier auch beim Essen zu einer nostalgischen Reise in vergangene Zeiten ein.

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