On Tour

Löwengebrüll in der Maremma

Was treiben afrikanische Löwen in der Toscana? Unser Autor Marcus X. Schmid, akribischer Überarbeiter des Toscanabandes (14. Auflage 2010), war für Recherchen in Semproniano zugange, einem Nest in den Hügeln der Maremma, abseits der italienischen Urlauberströme. Ein »Bed-and-Breakfast«-Schild führte ihn zu einer Begegnung mit exotischen Tieren. Sich spontan auf Unbekanntes einzulassen, gehört schließlich zum A und O des Reisebuchautors …


Semproniano ist ein kleines Dorf in der Toscana, genauer in den Maremma-Hügeln, nur 14 Kilometer von den berühmten heißen Quellen von Saturnia entfernt, aber kaum einer kommt nach Semproniano.
Und auch ich bin nur da, um das Toscana-Buch für die nächste Auflage auf den neuesten Stand zu bringen. In den Büchern des Michael Müller Verlags geht es auch um Orte, die abseits der touristischen Highlights liegen: eine Chance für alle, die hinter die Kulissen des Urlaubslands sehen wollen. Wer also nach Semproniano kommt, möchte wissen, wo er dort essen oder übernachten kann und was das Dorf sonst noch für ihn bereithält. Ich überprüfe die Infos der derzeitigen Auflage und halte die Augen offen für Neues. Neugier gehört schließlich zum Berufsprofil.


Neugier schlägt Zeitmangel oder Marcos Passion

Beim Dorfspaziergang fällt mir ein hübsch gemaltes Schild auf: »B & B – Giardini Pensili«. Ein schönes Haus, mitten im Dorf, vielleicht eine Adresse, die es verdient, ins Buch aufgenommen zu werden, denke ich, und obendrein klingt der Name »Hängende Gärten« vielversprechend. Ich klingle – einmal, zweimal, dreimal – ohne Erfolg und beschließe, die angegebene Handy-Nummer anzurufen. Eine sonore, männliche Stimme meldet sich, ich erkläre in meinem besten Italienisch, was ich will. »Marco Aloisi, in fünf Minuten bin ich da«, sagt der Mann.Tatsächlich fährt in fünf Minuten ein Transporter mit der Aufschrift »Animali vivi« (lebende Tiere) vor, in dem locker zwei Pferde Platz hätten. Ein kräftiger, lachender Mann steigt aus, schüttelt mir die Hand und stellt sich vor: »Marco, komm, ich zeig Dir unser B & B!« Die hängenden Gärten entpuppen sich tatsächlich als solche: drei wunderschön, steil übereinanderliegende Terrassen. Auch die vier Zimmer, alle mit Bad, sind überaus ansprechend eingerichtet. Das gehört eindeutig ins Toscana-Buch, denke ich, notiere mir Adresse und Preise – und will mich verabschieden. Damit wäre diese Geschichte zu Ende – nicht sehr aufregend, Berufsalltag eben … Ist sie aber nicht.

»Ich bin Tierarzt«, sagt der Mann zum Abschied, und »wenn du Zeit hast, zeige ich dir etwas«. Zeit habe ich wenig, aber die Neugier ist größer, und so fahre ich fünf Minuten lang hinter dem Transporter her zur tierärztlichen Praxis, ein paar hundert Meter außerhalb des Orts. Vor dem Haus wartet ein Paar mit einem weißen Pudel, der geimpft werden soll. »Nur ein paar Minuten«, sagt Marco, »schau dich ein bisschen um«. Das tue ich ausgiebig. Links des Hauses entdecke ich in einer Volière ein blaugefiedertes Papageienpaar, das in trauter Harmonie nebeneinander auf einer Stange sitzt und sich in einer mir unverständlichen Sprache unterhält. Dahinter äsen Rehe, und als ich noch einen Schritt weiter gehe, kläffen mich zwei wütende Hunde an, Rottweiler oder eine ähnliche Rasse – ich bin froh, dass sie eingesperrt sind.


Rehe, Affen, Tiger, Löwen

Der Pudel ist geimpft, Marco zieht mich zu seinem Transporter, in dem, wie gesagt, zwei Pferde Platz hätten, aber nur ein Karton steht. Den holt er heraus. Drin sind zwei klitzekleine Rehe, die noch nicht einmal stehen können. Das eine muss tiermedizinisch versorgt werden, es hat eine Infektion. »Und dann?« – »Wenn sie groß sind, gebe ich sie der Natur zurück.« Im Behandlungsraum zieht sich der Veterinär Gummihandschuhe über, holt ein frisches Skalpell und macht dem Tier einen Schnitt über den Augen – da, wo ich das Gehirn vermute. Dann löffelt er etwas Weißes aus dem Kopf, ich denke spontan, ein Teil des Gehirns, leicht mulmig wird mir schon zumute. Hinterher spritzt er noch eine Desinfektionsflüssigkeit in die Wunde, sagt »halt mal fest«, und ich halte das Rehkind mit entschlossenem Griff am Nacken, während er einen kunstgerechten Wundverband anbringt.

Das Reh ist verarztet, der nächste Patient wartet schon: wieder ein weißer Pudel, der geimpft werden muss. Als müssten von allen italienischen Hunden nur die weißen Pudel geimpft werden, denke ich. Der Hundebesitzer ist ein guter Bekannter des Tierarztes, Marco sagt ihm »Mach mit ihm (gemeint bin ich) einen Spaziergang, ich bin gleich fertig.« Etwas unterhalb der Praxis stößt mein frischgebackener Führer ein schweres Eisentor auf, dahinter auf einem größeren Gelände – sicher eingezäunt – sehe ich drei Löwen, ein Männchen mit stattlicher Mähne im Halbschlaf und zwei Weibchen, von denen eines plötzlich ein Gebrüll ausstößt, das die Rottweiler von nebenan vermutlich den Schwanz einziehen lässt. Im Nachbarkäfig dösen zwei Tiger, und weiter hinten turnen fröhlich ein paar Affen durchs Geäst.


Das Lachen eines mit beiden Beinen im Leben Stehenden

Wo bin ich gelandet? Im »Centro Recupero Animali Selvatici della Maremma« des WWF, der sich in Semproniano nicht nur um die Tierwelt der Maremma kümmert, sondern auch eine Station für »exotische Tiere« unterhält. »Meist kommen die Löwen und Tiger aus einem Zirkus, der Pleite gegangen ist«, erklärt mir Marco. Oft aber sind es auch private Halter, die ihr exotisches »Haustier« loshaben wollen. Für den Veterinär sind es Tiere, die der Pflege bedürfen, ob Pudel, Reh oder Löwe.

Der Mann versorgt in seiner Umgebung Kühe, Katzen und Hunde und ist auch noch verantwortlich für ausgediente Zirkuslöwen – fast habe ich den Grund meines Kommens vergessen. »Ich wollte ja nur Ihr B & B sehen«, sage ich zum Abschied. »Ja, ich weiß«, sagt er, »aber es gibt mehr im Leben« und lacht mich so direkt an, wie nur einer es kann, der mit beiden Beinen im Leben steht. Über das B & B haben wir nicht mehr geredet, aber ich bin mir sicher, dass dies eine gute Adresse ist, ganz einfach, weil Marco nicht nur die Tiere und ihre Bedürfnisse kennt, sondern auch die Menschen.

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