Anlässlich der Neubearbeitung der »Bretagne« (7. Auflage 2007) hat sich unser langjähriger Autor Marcus X. Schmid erst einmal in einer Kneipe breit gemacht. Denn hier, denkt er, lässt es sich vortrefflich über die Vor(ur)teile der französischen Urlaubsregion nachdenken. Die bretonische Sonne zeigt sich erst unversöhnlich – bis er sich wieder auf seinen Weg macht, um den Trinker-, Glaubens- und Klima-Klischees auf den Grund zu gehen.
Sonntagmorgen in Saint-Pol-de-Léon. Draußen regnet’s in Strömen, ich suche erst einmal eine Bar auf, um meinen Recherche-Tag zu organisieren. Keine Seele außer der Bedienung und mir in dieser Bar. Ich bestelle Kaffee und Croissant und widme mich der mageren Sonntagsausgabe der regionalen Zeitung. Die Recherche kann warten. Auf einmal, knapp nach zehn Uhr, ist es mit der Ruhe zu Ende, und eine Viertelstunde später ist die Bar voll. Ach, die Bretonen sind also aufgestanden, denke ich, aber wieso alle auf einen Schlag? Ein Blick auf die Notre-Dame, deren himmelstürmender Turm in der ganzen Bretagne berühmt ist, bringt die Erklärung: eine Menschenmasse strömt aus dem Gotteshaus, die Messe ist aus. Kein Feiertag, ein einfacher Sonntag, aber die Kirche war proppenvoll. Der männliche Teil der Besucher trifft sich jetzt in der Bar beim Bier, derweil der weibliche sich in der heimischen Küche dem Sonntagsbraten widmet. Draußen scheint der Regen nicht aufhören zu wollen.
Ein Ehrenplatz in der Trinkerstatistik
Mir kommt ein französischer Freund in den Sinn, ein Bretone, der sich gerne als Pariser bezeichnet und seine bretonische Herkunft lieber verschweigt. Als ich ihm damals von meiner Absicht erzählte, in der Bretagne für ein Reisebuch zu recherchieren, zuckte er die Schultern: ein Volk von gutmütigen Trinkern seien die Bretonen, sehr katholisch – und es regne dort häufig. Tatsächlich weist die französische Trinkerstatistik den Bretonen einen Ehrenplatz zu, in den abgestuften, bordeauxroten Tönen ist die Region dunkelbordeauxrot markiert. Das Motto einer Regierungskampagne »Alkohol tötet langsam« quittierte der bretonische Volksmund damals gelassen: »Macht nichts, wir haben’s nicht eilig.«
Tatsache ist auch, dass in ganz Frankreich, Korsika inklusive, die Kirchen am Sonntag fast leer sind – in ganz Frankreich? Nein. Wie bei Asterix gibt’s da eine Ecke, die sich nicht ins Bild fügt: die Bretagne. Vielleicht besteht ja ein Zusammenhang zwischen Alkoholismus und Katholizismus, denke ich. Mir kommen die trinkfesten Iren in den Sinn, bei denen die Abtreibung noch immer als Kapitalverbrechen geahndet wird, und die Polen, diese stockkatholischen Schluckspechte. Offensichtlich gibt’s da einen Zusammenhang zwischen Wodka und Weihrauch, auch wenn er sich mir auf Anhieb nicht erschließen will.
Draußen regnet’s. Trostlos, also noch ein Bier. Was Wunder, dass die Schweden und Finnen stundenlang dumpf vor sich hin trinken, was das Zeug hält, von den Grönländern ganz zu schweigen – bei deren Klima hilft eh nur noch Schnaps.
Am Ende der Welt
Es ist schon fast Mittag geworden, meine luziden Überlegungen über Alkoholismus, Katholizismus und Klima in Ehren, aber die Recherche für das Bretagne-Buch bringen sie kaum voran. Die Bar leert sich, die Männer streben jetzt ihrem Sonntagsbraten entgegen, dem sie mit einem guten Tropfen ihre Reverenz erweisen werden. Ich bleibe allein in der Bar zurück, habe einen halben Morgen mit unnötigen Gedanken vertrödelt statt zu recherchieren – und sehe jetzt plötzlich: Draußen blinzelt die Sonne hinter den Wolken hervor, auf geht’s!
In den folgenden Stunden setzt sich die Sonne durch. Ich verlasse Saint-Pol-de-Léon am Nachmittag, ich durchstreife die Gegend kreuz und quer, unternehme Spaziergänge an der Küste, kämpfe gegen den Wind – die Sonne hat sich mittlerweile gegen das dräuende Gewölk durchgesetzt. Auch in den Tagen darauf hält das schöne Wetter. Die Landschaft wechselt vom lieblichen, hügeligen Innenland mit seinen Dörfern zur schroff abweisenden Felsküste, das Meer ist stets nah, manchmal unzugänglich, manchmal zum erfrischenden Bad einladend. Ich bin im Finistère, dem finis terrae, am Ende der Welt also, sehe die gegen die Klippen peitschende Gischt und die Leuchttürme, die den Naturgewalten trotzen, besuche in den Dörfern Kirchen und Kneipen gleichermaßen und denke »quel pays!« – was für ein Land!
Verführung der Fotografen
A propos: Dass es in der Bretagne stets regnet, halte ich nach vier sonnigen Wochen (nach Saint-Pol-de-Léon) für ein Vorurteil. Selbstverständlich regnet es ab und zu auch in der Bretagne (die bretonischen Bauern wissen’s zu danken), im statistischen Jahresdurchschnitt etwas mehr als an der Côte d’Azur – tant pis, was soll’s – aber der Regen geht vorbei. Und wenn dann die Sonne scheint, so taucht sie die Küste in ein Licht, von dem man an der Côte d’Azur nur träumen kann. Die Magie des bretonischen Lichts verführte im 19. Jahrhundert unzählige Maler, heute sind es die Fotografen, die am frühen Abend unterwegs sind, wenn die Sonne die bretonische Landschaft verzaubert.
Und sollte es tatsächlich einmal regnen, so findet der Reisende, ob katholisch oder nicht, in der nächsten Kirche ein schützendes Dach. Oder er sucht eine bretonische Bar auf und versucht bei einem Chouchenn, so heißt der heimische Honigwein, dem mysteriösen Zusammenhang zwischen Alkoholismus, Katholizismus und Klima auf die Spur zu kommen.