In ihrem Reiseführer zu Deutschlands wilder Metropole – »Berlin MM-City« (2. Auflage 2014) – haben Michael Bussmann und Gabriele Tröger tief in die Ehrlichkeitskiste gegriffen. Für unsere Kolumne »On Tour« gingen die zwei begeisternden Buchautoren noch einen Schritt weiter und erzählen von einem Berlin, von dem wir alle schon gehört haben, das aber so nie in Reisebüchern beschrieben wird. Ihr Konzept? Sie hielten einfach die Augen auf und beobachteten »ihre« Straße: Berlin, wie es wirklich ist.
»Schreibt doch mal was über eure Wahlheimat Berlin und über die Knallköpfe, denen man dort begegnet«, so die Anfrage des Michael Müller Verlags zwecks einer Kolumne für den aktuellen Newsletter. Nichts leichter als das, wenn man in einer Straße wohnt, die Knallköpfe – liebenswerte genauso wie völlig verrückte – nur so anzieht.
Die Sonnenallee im Blick
Unsere Wahlheimat ist seit sechs Jahren die Urbanstraße in Kreuzberg, eine knapp zwei Kilometer lange, von schmucken Gründerzeitbauten und schäbigen Sechziger-Jahre-Blocks gesäumte Verkehrsader. Sie durchzieht Kreuzberg von West nach Ost und geht in Neukölln in die Sonnenallee über, die durch Leander Haußmanns gleichnamigen Film deutlich bekannter ist als unsere Urbanstraße.
Südlich und nördlich unserer Haustür erstreckt sich das bunte Kreuzberg der Bildbände. Das Kreuzberg der Altlinken und Anarchos (die denken, sie hätten den Stadtteil für sich gepachtet), der Hipster (die von den eben Genannten noch halbwegs akzeptiert sind), der hippen Touristen (»Rollkoffer go home!« wurde schon plakatiert) und der gut betuchten Kreativfritzen (die immer wieder mal Eier an ihre blinkenden Altbaufenster bekommen). Nur wenige Schritte südlich und nördlich unserer Haustür kann man in schräg-schönen Szenebars picheln, in sternengeschmückten Restaurants schmausen und – der Prenzlauer Berg hält Einzug – aufgemotzten Anfang-Vierzigerinnen mit Designer-Retro-Buggys begegnen.
Die Etablissements der »Straße der Ungerechtigkeit«
Die Urbanstraße selbst kann von all dem nur träumen. Hier gibt es inflationär viele Backshops (die Straße ist auf dem besten Weg, die höchste Bäckereidichte der Republik aufzuweisen), zig Spätkaufs, eine Sisha-Bar (vor der Autos parken, wie sie sich kein Anwohner der Straße leisten kann), einen Matratzen-Discounter, jede Menge Spielotheken (jene schräg unter uns bekam zur Verwunderung aller Anwohner jüngst eine große Lieferung an Waschmaschinen, woraufhin ein Nachbar meinte, die nähmen es mit der Geldwäsche wohl zu genau), diverse Trödler, einen arabischen Kitsch-und-Protz-Möbelladen (regelmäßiges Kopfschütteln beim Vorübergehen), mehrere Wettbüros und ganze drei Hardcore-Gay-Etablissements mit den hübschen Namen »DarkZone«, »Triebwerk« und – nun festhalten, denn Berlin ist mal wieder seiner Zeit voraus – »Ficken 3000«. Das »Ficken 3000« hat es schon in eine Rosa-von-Praunheim-Dokumentation geschafft und sein so genanntes »Glory Hole« (eine unappetitliche Wand mit Loch) angeblich in eine US-amerikanische Galerie. Also kein Wunder, dass die Urbanstraße trotz ihrer Räudigkeit mittlerweile Kultstatus besitzt. Auf dem nahen Neuköllner »Flowmarkt« werden »Urban Street«-Buttons verkauft, und selbst die »ZEIT« widmete unserer Straße 2013 einen ganz schön langen Artikel mit dem Titel »Die Straße der Ungerechtigkeit«. Dabei ging es um die unterschiedlichen Bildungschancen der Anwohner, um die deutschen Kinder aus den renovierten Altbauten und die Kinder nichtdeutscher Herkunft aus den Betonburgen.
Die Metropole der Knallköpfe
An der Kreuzung bei der Urbanapotheke erlebten wir neulich folgende Szene: Am Zebrastreifen wartet ein einbeiniger Raucher auf Krücken, neben ihm ein junger Vollbart mit dreibeinigem (!) Hund. Sagt der Vollbart zum Krückenmann: »Dir jeht’s auch nicht besser als mei’m Hund.«
Liebenswerte und völlig verrückte Knallköpfe allüberall: Der Punk von gegenüber verbringt manche seiner Vormittage fröhlich singend auf dem Gehweg, unfähig, noch aufzustehen. An anderen Tagen ein Geschrei, das einen auf den Balkon treibt – aber von wegen Messerstecherei. Da telefoniert mal wieder einer, brüllt Weltschmerz oder Liebeskummer in das arme Handy. Schade nur, dass man die Sprache nicht versteht. Ein wunderbarer Knallkopf-Hotspot ist auch das »Bierhaus Urban«, vor allem im ersten Viertel des Tages. 24 Stunden hat die Eckpinte geöffnet, dieses von der Gentrifizierung noch verschonte Original in unserer Nachbarschaft.
Als sich letztes Jahr Stuck von unserem Dachsims löste und Polizei und Feuerwehr anrückten, blieb unser Vermieter ganz entspannt: »Frau Tröger, hier haben so viele Leute einen Dachschaden, da ist es doch egal, wenn mal was auf einen drauf fällt.«
Die Katze im Karton
In der Urbanstraße plumpsen tragischerweise aber nicht nur Stuckelemente, Dachziegel und Eiszapfen aufs Trottoir. Hier kam schon eine Katze vom Himmel herab, die auf der Gehwegterrasse zwischen den Gästen des Cafés unten im Parterre aufschlug. In England ist man so etwas gewohnt (»It’s raining cats and dogs«), aber nicht in der Urbanstraße.
Die Notiz an unserer Haustür ging so: »Herzliches Beileid. Da wir den Besitzer nicht ausfindig machen konnten, haben wir die Katze in eine Schachtel getan und bedeckt.« Bedeckt war der Karton mit einem Zettel, auf dem stand: »Achtung – tote Katze!« Da der Karton klein und die Warnung noch kleiner war, hing der Schwanz heraus – traurige drei Tage lang.
Leider versäumten wir, Karton samt Zettel für den Blog »Notes of Berlin« (www.notesofberlin.com) zu fotografieren. Die skurrilsten Aushänge der Hauptstadt werden dort gepostet, knallköpfig-geniale Alltagspoesie, die an Haustüren, Laternenpfählen oder Autos klebt. Unser Favorit: »Wellensittich entflogen. Farbe egal.«