Wie kaum eine andere Region Italiens definiert sich der Cilento über die Küche. Das will durchaus etwas heißen, schließlich hat das Essen überall auf der Apenninenhalbinsel traditionell einen hohen Stellenwert. Zum guten Ruf der cilentanischen Küche tragen weniger raffinierte Rezeptideen bei, sondern die ausgezeichnete Qualität der Zutaten. Dieser etwas andere Reisebericht entführt Sie in einen noch wenig bekannten Landstrich im italienischen Süden, der sich vorwiegend, aber nicht ausschließlich, über hochwertige Lebensmittel definiert.
Das Schöne am Cilento sei, verriet mir einmal eine gute
Freundin, dass es dort im Grunde nichts zu tun gebe. Was auf den ersten Blick
despektierlich klingt, war von ihr gut gemeint: Die Abwesenheit von
Attraktionen der Kategorie „Must-see“ führt unweigerlich dazu, dass Reisende
sich gemütlich zurücklehnen können. Wer eine Vorstellung davon gewinnen möchte,
was hinter dem Begriff Slow Travel steckt – hier findet sich ein treffendes
Beispiel!
Gestritten habe ich mich mit meiner Freundin trotzdem. Klar, die
„besternten“ Sehenswürdigkeiten sucht man im Cilento mit der Lupe. Aber das mit
der gänzlichen Abwesenheit von Attraktionen konnte und wollte ich dennoch nicht
stehenlassen. Daher führte ich verschiedene Gegenargumente ins Feld, etwa, dass
die Region ein erstklassiges Bade- und Wanderrevier ist. Die besagte Freundin
zeigte sich unbeeindruckt und ließ erst dann eine emotionale Regung erkennen,
als ich die ausgezeichnete Küche des Cilento erwähnte. Sie wollte Konkretes von
mir wissen. Deshalb erzählte ich ihr von meiner jüngsten Recherche-Tour durch
einen bislang wenig bekannten Landstrich im Süden Italiens …
Der Cilento liegt im Süden der italienischen Halbinsel, gehört folglich zum wirtschaftlich schwachen Mezzogiorno. Das Gebiet bildet den südlichen Abschluss der Region Kampanien mit der Hauptstadt Neapel und ist großteils identisch mit der Provinz Salerno. Seit 1991 ist die Region ein Nationalpark, der von der zerklüfteten Küche bis ins gebirgige Hinterland reicht. Namhafte Touristenmagnete mit Leuchtturmcharakter sind die antiken Tempel von Paestum, von wo der Blick bei klarer Sicht bis an die Küste von Amalfi reicht. Im Hinterland liegt die Agrarhochburg Eboli, bekannt geworden durch den autobiografischen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ des Turiner Arztes Carlo Levi. In Eboli endete früher die zivilisierte Welt. Südlich und östlich schloss sich karges, dünn besiedeltes Bauernland an. Dünn besiedelt präsentiert sich der Cilento noch heute. Und noch immer gibt die Agrarwirtschaft in den Dörfern den Ton an.
Wer auf baufälligen Straßen die Dörfer im Hinterland ansteuert, kehrt am Abend in der Regel immer mit einer Handvoll herzöffnender Erlebnisse in das Küstenquartier zurück. Viele Dörfer wirken ausgezehrt von den Jahrhunderten, in denen die Menschen wirtschaftliche Not litten. Einige wanderten in den Norden Italiens oder sogar nach Südamerika aus. Naturkatastrophen wie Erdbeben oder Erdrutsche trugen ebenfalls zum heutigen kargen Erscheinungsbild mancher Orte bei. Die wahren Schätze offenbaren sich daher erst auf den zweiten Blick – die Rede ist von den landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die die Bauern der harten Krume abringen und die unter dem Label „prodotti tipici“ den Weg in die Regale der Lebensmittelgeschäfte und in die Küchen der örtlichen Restaurants finden: Esskastanien, Feigen, Artischocken, Blattgemüse und natürlich jede Menge Wein und Oliven. Häufig handelt es sich dabei ganz selbstverständlich um Bio-Produkte, auch wenn das Wort „Bio“, anders als hierzulande, selten zu Vermarktungszwecken auf dem Etikett abgedruckt ist.
Im Süden des Nationalparks läuft die Küste zur Hochform auf. Ein landschaftliches Highlight ist das Kap von Palinuro, das mit seinen zerklüfteten Steilküsten weit ins Meer hinausragt. Palinuro selbst ist ein typischer Ferienort, der im Ferienmonat August aus allen Nähten platzt und den Rest des Jahres friedlich vor sich hin dämmert.
Nachdem ich mein Quartier bezogen habe, radle ich mit einem Leihfahrrad wenige Kilometer landeinwärts zu einem winzigen Fachgeschäft für Thunfischkonserven. Eigentlich handelt es sich weniger um ein Geschäft, sondern vielmehr um eine Art Outlet oder, noch besser, um eine Manufaktur mit angeschlossenem Verkaufsbereich. Ein Fischer, so die Geschichte der Firma „Aura Cilento“, überließ einst das Fischen seinen Söhnen und verlegte sich stattdessen auf das Konservieren des Thunfischfangs in dekorativen Gläsern. Beim Betreten des Ladens legt eine junge Dame ihr Handy auf den Tresen und kommt mir freudestrahlend entgegen. Mit ihrer Kleidung, ihrer Frisur sowie ihrem gesamten Auftreten passt sie eher in eine Mailänder Parfümerie als in die cilentanische Provinz. Sie schenkt mir ein charmantes Lächeln und lässt der Ouvertüre einen langen Wortschwall auf Italienisch folgen, der sich im Wesentlichen um Thunfisch in Dosen dreht. Zweierlei lehrt mich ihr Vortrag: Erstens ist mein Italienisch, sagen wir mal, verbesserungsfähig. Zweitens ist Thunfisch nicht gleich Thunfisch. Es gibt verschiedene Thunfischsorten, die sich mitnichten nur in Nuancen unterscheiden. Folglich verlasse ich das Geschäft mit einer prall gefüllten Tüte und gefühlt zehn verschiedenen Sorten eingelegten Thunfischs. Und das zu einem für cilentanische Verhältnisse sündhaft teuren Preis!
Ein Paket mit Linsenmehl befindet sich im Übrigen auch in der Einkaufstüte. Es handelt sich um spezielle Linsen, die einer Bitterschote entstammen, die in Lentiscosa kultiviert wird, einem kargen Bauernweiler oberhalb von Marina di Camerota. Den sogenannten Maracuoccio di Lentiscosa gibt es nur in kleinen Mengen, weshalb er ein kostbarer Rohstoff ist. Verwendung findet er in der Küche des südlichen Cilento vorzugsweise als Polenta-Zutat.
2005 veröffentlichte der Journalist und Fotograf Dan Buettner in der Zeitschrift National Geographic einen Artikel, der der Frage nachging, warum in bestimmten Regionen die dort lebenden Menschen ein besonders hohes Alter erreichen. Diese Regionen, zu denen beispielsweise Sardinien, Ikaria (in Griechenland), Costa Rica und ein Teil von Kalifornien zählen, nennt der Autor „Blue Zones“. Nicht nur das numerische Alter ist hier von Interesse, sondern auch die Lebensqualität der Menschen in ihrer letzten Lebensphase. Dan Buettner reiste persönlich in die Gebiete und kam zu dem Schluss, dass unter anderem ausreichend Bewegung (oder körperliche Betätigung in Form von Gartenarbeit), eine aktive Funktion in einer Gemeinschaft und nicht zuletzt eine gute Ernährung ausschlaggebend für die Lebensqualität im Alter seien. Hätte der Autor den Cilento gekannt, hätte er womöglich auch die italienische Region als Blaue Zone deklariert. Auf seiner Reise durch den Nationalpark wäre er vielleicht nach Pioppi gelangt, einem unscheinbaren Fischerort in der Bucht von Velia. Ich stehe am gepflegten Lungomare und schaue auf das Meer hinaus. Die Sicht ist klar, weshalb der Blick nach Süden über die Bucht von Velia bis zum Kap von Palinuro fällt. Ich liebe diesen Ort, auch wenn es hier im Grunde nicht allzu viel zu tun gibt. In kulinarischer Hinsicht ist Pioppi indes nicht gänzlich ohne Bedeutung: Als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die Alliierten in Süditalien landeten, um in der Folge die deutsche Wehrmacht nach Norden zu drängen, begleitete die US-amerikanischen Truppen der Ernährungsphysiologe Ancel Keys.
Gutes Essen, so das Kalkül der Verantwortlichen, steigere die Schlagkraft des Heeres! In Pioppi fand Ancel Keys ein wahres Paradies: eine abwechslungsreiche Küstenlandschaft, die würzige Luft und gutes Bauernland; hinzu kam die abgeschiedene Lage meilenweit von Großstadthektik entfernt. Lange bevor das Wort „Regionalität“ zum Zauberwort bewussten Ernährens wurde, erkannte er, dass die vor Ort gefertigten Lebensmittel der Gesundheit stärker zuträglich sind als industriell hergestellte Importprodukte. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrte Ancel Keys in den Cilento zurück. Er ließ sich in Pioppi nieder und kreierte hier seine berühmte Mittelmeerdiät, die heute Teil des immateriellen Welterbes der UNESCO ist. Mit Entsagung hat die Diät nur wenig zu tun, denn auch Fisch oder Geflügel finden sich auf dem Speiseplan. Und ein Gläschen heimischen Rotweins darf bei einer zünftigen Mahlzeit natürlich auch nicht fehlen. Ancel Keys, dessen Wirken in Pioppi ein Museum gewidmet ist, wurde 103 Jahre alt, was Pioppi mithin zu einem heißen Anwärter für das Label Blaue Zone macht …
Die letzte Station der kulinarischen Reise durch den Cilento führt mich zurück zum Ausgangspunkt: In Tuchfühlung zum Tyrrhenischen Meer erheben sich die griechischen Tempel von Paestum wie eine Theaterkulisse aus der Ebene des Sele.
Der Fluss, der in den Apenninen entspringt, formte das flache Küstenhinterland im Verlauf von Jahrmillionen. Heute bildet der Schwemmsand ein ideales Habitat für Wasserbüffel. Die ursprünglich in Asien beheimateten Nutztiere liefern mit ihrer Milch die entscheidende Zutat für den berühmten Mozzarella-Käse. Nach der Tempel-Besichtigung habe ich Hunger und mache das, was die meisten Paestum-Besucher tun: Ich suche eine Büffelmozzarella-Farm auf. Von denen gibt es in Schlagdistanz zum Archäologie-Park mehrere, einige liegen sogar in Gehentfernung. Wer Mozzarella nur aus den Kühlregalen der hiesigen Supermärkte kennt, hat keine Vorstellung davon, wie die frisch hergestellte Spezialität wirklich schmeckt: nämlich vorzüglich! Demzufolge mundet an diesem heißen Sommertag der Mittagstisch-Klassiker – ein Käseteller mit herrlich duftendem Bauernbrot – ganz vortrefflich. Und zum Nachtisch lasse ich mir ein Gelato aus Büffelmilch schmecken, derweil sich die Rinder mit ihren langen, gebogenen Hörnern mehrere Hundert Meter von mir entfernt auf ihrer Koppel im Schlamm wälzen.
Mozzarella ist das bekannteste Produkt „Made in Campania“ und blickt auf eine lange Geschichte zurück. Angeblich war es ein Mönch im Mittelalter gewesen, der bei einem christlichen Fest erstmals frisch hergestellten Käse von einer langen Stange in handtellergroße Stücke zupfte und an die Pilger weitergab. Inzwischen ist die Käseproduktion ein veritabler Wirtschaftszweig, an dem rund 20.000 Arbeitsplätze hängen. 1996 erhielt der Mozzarella von der Europäischen Union das DOP-Gütesiegel für herkunftsgeschützte Lebensmittel. Allerdings war die Beziehung zu Brüssel nicht immer frei von Konflikten, denn zwischenzeitlich drohte die EU aus hygienischen Gründen den Produzenten mit dem Verbot der Holzbottiche, in denen der Frischkäse traditionell eingelagert wird. Eine weitere Krise, die durch illegale Giftmüllentsorgung der Camorra im Hinterland verursacht wurde, führte zu einem vorübergehenden Einbruch der Absatzzahlen. Zuverlässigere Lebensmittelkontrollen, die man in der Folge einführte, halfen, das Vertrauen in das kampanische Vorzeigeprodukt auf dem internationalen Parkett wiederherzustellen.
Der Abschied aus dem Land, das man essen kann, fällt mir schwer. Ich sitze in einer Bar am Strand. Die Sonne scheint. Das ist nicht selbstverständlich, denn über das Jahr gerechnet, kommt im Cilento gar nicht so wenig Niederschlag zusammen, auch wenn der Sommer klimatisch den üblichen mediterranen Gesetzmäßigkeiten folgt. Ich erinnere mich an so manchen Wolkenbruch, der in der Vergangenheit eine seriöse Buch-Recherche mitunter schlicht nicht zugelassen hat. Was für den Urlauber suboptimal, ist für den Landwirt erfreulich – schließlich sind die prodotti tipici, die der Cilento hervorbringt, nicht zuletzt einem ausreichenden Wasservorkommen zu verdanken.
Liebend gerne würde ich, anstatt heimzufahren, die Reise ins wilde Hinterland des Nationalparks fortsetzen. Dort gäbe es einiges zu entdecken: Rote Kartoffeln (patate rosse) in Padula oder Weiße Feigen (fichibianchi) in Auletta (und in anderen Orten) oder die soppressata aus einem Dorf namens Gioi. Basis dieser berühmten Wurstspezialität ist Fleisch von frei lebenden Schweinen, ein typisches Merkmal ist der Speckstreifen im Innern, der dafür sorgt, dass die Soppressata auch im getrockneten Zustand ein klein wenig Feuchte behält. Eine weitere Station der Reise wäre Felitto im Tal der Calore, Heimat der fusilli. Vor Ort nach uralten Rezepturen hergestellt und von Hand gedreht, weist die cilentanische Pasta keinerlei Ähnlichkeit mit den bekannten Drehnudeln aus den Supermärkten auf. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich ertappe mich tatsächlich bei dem Gedanken, meinen morgigen Flug von Neapel nach Deutschland noch mal um eine Woche zu verschieben. Andererseits wartet in Deutschland eine gute Freundin auf mich, die begierig darauf ist, zu erfahren, dass der Cilento mehr als nur eine erstklassige Bade- und Wanderregion ist …