Das Ungarische Parlamentsgebäude, die Fischerbastei oder die Kettenbrücke über die Donau – klar, das kennt man alles. Doch dass mitten in Budapest gerade spektakuläre neue Architektur geschaffen und gleichzeitig in großem Umfang Historisches rekonstruiert wird, davon ist außerhalb des Landes kaum etwas zu hören oder zu lesen. Barbara Reiter und Michael Wistuba, die den Städteführer Budapest geschrieben haben, reisen seit Jahren regelmäßig in die ungarische Hauptstadt und erleben derzeit, wie Budapest sein Stadtbild runderneuert.
Begibt man sich hinauf auf den Budaer Burgberg mit dem Burgpalast, so findet man sich nicht nur bei einem Sightseeing-Klassiker der Stadt, sondern mitten in einem der derzeit größten Rekonstruktionsprojekte Mitteleuropas. Seit 2014 setzt hier die ungarische Regierung das Nationale Hauszmann-Programm um. Dessen Ziel ist es, alle im Zweiten Weltkrieg oder in der Nachkriegszeit zerstörten Gebäude und ihre Umgebung wiederherzustellen. Maßstab für die Rekonstruktion ist der Zustand des weitläufigen Ensembles zur Zeit der Jahrhundertwende (19./20. Jh.), gebaut wird also im Stil des Historismus, mit der Technik des 21. Jahrhunderts. Architekt Alajos Hauszmann (1847–1926), der Namengeber des Projekts, leitete dereinst die Erweiterung der königlichen Burg zum neobarocken Palast. Und so soll der Burgpalast bald wieder aussehen. Kräne, Gerüste und Bauzäune prägen nun das Bild und verunstalten auch ein wenig den berühmten Burgbergblick herüber vom anderen, dem Pester Donauufer. Doch es geht erstaunlich flott voran, bei jedem Besuch, selbst im Halbjahresabstand, gibt es Neues zu entdecken. Und all das Neue sieht so aus, als wäre es immer da gewesen.
Etwa das Gebäude der Hauptwache von 1903, in dem einst die königliche Leibgarde untergebracht war und das nach Kriegsschäden von der kommunistischen Regierung 1971 abgerissen wurde, seit 2019 ist es wieder da. Außen historisch, innen modern, dient es nun als Kaffeehaus und Veranstaltungslokal. Ebenfalls neu und alt zugleich ist die Reithalle von 1901. Sie wurde außen und innen originalgetreu rekonstruiert, Pferde gibt es keine mehr, hier werden nun Events veranstaltet. An einem Trakt des Südflügels des Burgpalasts ist auch bereits wieder die neobarocke Außenfassade zu sehen, im Inneren wurde 2021 der Sankt-Stephans-Saal, ein neugotisches Juwel von 1898 mit Kassettendecke, Seidenwänden und üppigen Dekorationen, detailgenau rekonstruiert.
Der Nordteil des Burgpalasts ist noch hinter Gerüsten verborgen, hier entsteht der frühere Haupteingang wieder mit seinem reich verzierten Portal und im Inneren eine Flucht an repräsentativen Sälen.
Beim wuchtigen Erzherzog-Joseph-Palais schräg gegenüber sind die Bauarbeiten schon weit fortgeschritten, an dem nackten Betonrohbau werden jetzt die verschnörkelten Fassaden angebracht. 1902 im Neorenaissance-Stil errichtet, war das Palais Wohnsitz des ungarischen Zweigs der Habsburger, seine Kriegsruine wurde 1968 gesprengt, das Areal lag seither weitgehend brach.
Einen Steinwurf entfernt wurde das einstige Gebäude des Armeehauptquartiers, ein Neorenaissance-Palais von 1895, bereits vollständig wiederaufgebaut. Zuvor standen hier jahrzehntelang seine mit Einschusslöchern versehenen unteren Geschosse, nun ragt das Gebäude wieder in alter Pracht in die Höhe und wird von einer mächtigen Kuppel bekrönt, die die Silhouette des Burgbergs deutlich verändert hat.
Während am Budaer Burgberg historische Architektur neu geschaffen wird, entstanden im „Stadtwäldchen“, dem großen Stadt- und Freizeitpark auf der Pester Donauseite, zwei außergewöhnliche Projekte zeitgenössischer Architektur: Für das 2022 inmitten alter Silberpappeln eröffnete Haus der Ungarischen Musik entwarf der japanische Stararchitekt Sou Fujimoto einen grazilen Glasbau mit einem durchlöcherten Dach, durch das Bäume in die Höhe wachsen und von dessen Unterseite 30.000 stilisierte goldene Blätter hängen. Ein eindrucksvoller Bau, der weltweit seinesgleichen sucht und völlig zu Recht mit internationalen Architekturpreisen überhäuft wird.
Nur wenige Gehminuten entfernt steht ebenfalls seit 2022 der Neubau für das Ethnographische Museum, die Pläne stammen vom Budapester Büro Napur. Es ist ein lang gestreckter geschwungener Gebäuderiegel, der das Stadtwäldchen nach Südwesten hin abschließt, seine Mitte ist in die Erde versenkt, die Dachflächen sind begrünt und lassen sich über lange Treppen besteigen.
Das Metallgitter, das die Glasfassade des Gebäudes umhüllt, sieht wie ein gehäkelter Vorhang aus und stellt so den Bezug zu den ethnographischen Sammlungen her. Der einzigartige Bau hat das Zeug zu einem neuen Wahrzeichen der Stadt. Aber es werden wohl noch einige Jahre ins Land ziehen müssen, bis es in einem Atemzug mit dem Parlament, der Fischerbastei und der Kettenbrücke genannt wird.