Robert Zsolnay, unser Reisebuchautor, für Shanghai und Menorca, wäre eigentlich in diesem Sommer 2020 wieder im Mittelmeer unterwegs gewesen – die Recherchen für seinen Menorca-Reiseführer standen an. Statt nach Menorca, fuhr er an den Chiemsee – und kam ins Schwärmen, aber lest selbst.
Es duftet nach feuchtem Laub und Moos. Blau schimmernde Pechlibellen jagen an diesem strahlenden Herbstmorgen surrend über das Wasser des Kesselsees. Das kleine Paradies gehört zur Eggstätter-Hemhofer Seenplatte. Wie glitzernde Perlen liegen die siebzehn Seen nordwestlich des bayerischen Meeres in der Landschaft.
Natürlich gibt es in Bayern kein Meer, doch die Tourismuswerbung hat den Chiemsee nun mal so getauft, um den aus ihrer Sicht einzigen Makel des Freistaats zu kaschieren: den des fehlenden Ozeanzugangs. Während also die Besucher des Chiemgau zum Meer strömen, herrscht wenige Kilometer entfernt an der Eggstätter Seenplatte meist idyllische Ruhe. Das wissen vor allem Einheimische zu schätzen, von denen einige Hartgesottene bei gutem Wetter bis in den November hinein im Kesselsee schwimmen. Mir ist es trotz Sonne am Vormittag zu kalt dafür. Also beobachte ich Libellen: Looping, Rückwärtsflug – für die Vierflügeligen alles kein Problem.
Mir dagegen wurden, wie den meisten Weltenbummlern, dieses Jahr die Flügel gestutzt: Marrakesch, Menorca, Ibiza, Formentera – allesamt 2020 auf meinem Rechercheplan. Irgendwer sprach den schönen Satz: Planung ersetzt den Zufall durch den Irrtum. Aber hey – ja kein Selbstmitleid! Beginnen echte Abenteuer nicht häufig vor der Haustür?
Wir wurden südöstlich von München fündig, in den unbekannteren Teilen des Chiemgau –ohnehin ein von Schönheit geadelter Landstrich. Doch in den vergangenen Wochen und Monaten ist er meinen Liebsten und mir noch mehr ans Herz gewachsen. Und zwar nicht nur wegen der knapp 30 Kilometer Wanderwege durch die Eggstätter Seenplatte, den romantischen Buchten am Kesselsee, den Liegewiesen und Stegen an Hartsee, Pelhamer, Stettner und Langbürgner See.
Statt Tapas und köstlich-kaltem Malvasia auf Ibiza gab es eben knuspriges Haxerl mit Landbräu-Begleitung im Biergarten der Dorfwirtschaft Asten. Anstatt an weißen Sandstränden ins Meerestürkis Formenteras abzutauchen, glitten wir im Elektroboot über den Tachinger See, sein grünes unbebautes Ufer und die prächtige Bergsilhouette immer im Blick. Statt Marrakeschs labyrinthartiger Medina lockte uns Tittmonings beschauliche Altstadt mit einem fast 300 Meter langen bunten Stadtplatz, über dem eine mittelalterliche Burg wacht, ehemals Dependance der Salzburger Bischöfe.
Eine unserer besten Bergwanderungen führte von Unterwössen auf den Hochgern (1748 Meter), wo knapp 300 Höhenmeter unter dem Gipfel ganzjährig das Hochgernhaus auf Gäste wartet. Ach ja: Eine Wiederholung gab’s doch im Chiemgau-Vertiefungsprogramm: Die Kampenwand ist einfach Pflicht – nicht nur, weil das Massiv unterhalb des Gipfelkreuzes so imposant dasteht. Auch, weil der Blick auf Aschau und die Weite dieser mit Seen, Wäldern und sanften Hügeln gesegneten Gegend einmalig ist – hier oben verstand ich vor Jahren zum ersten Mal, warum ein Chiemgauer mir in München einmal erzählt hatte, er stamme aus Bayerisch Kalifornien.
Wer es bequem mag, kann sich der Kampenwand mit der Seilbahn nähern (ganzjährig, Wartung 9.11. – 24.12). Ihre historischen Gondeln in den knalligen Farben der Siebziger sind Hingucker; in der Sonne leuchten sie fast so schön wie die Kesselsee-Libellen. Es gibt zwar kein bayerisches Meer, aber Chiemgauer und Kalifornier eint ein gewisses Lebensgefühl.