Der 300 Seiten starke Reiseführer zu Rügen, Hiddensee und Stralsund von Sven Talaron liegt in einer neuen Auflage vor. Hier erzählt unser Stammautor von einem ungewöhnlichen Thema: modernen Ikonen der DDR-Baukunst. Wo? Auf Rügen? Dort gibt es doch nur Bäderarchitektur oder das brachiale Prora. Weit gefehlt! Man muss nur wissen, wonach man Ausschau hält ...
Das Ufo scheint über den Dünen von Binz zu schweben. Strahlend weiß, rund geschliffen wie ein Kiesel in der Brandung, schier schwerelos und transparent. Es wirkt, als könne dieses außerordentliche Stück Baukunst jeden Moment abheben und die Küste entlang oder über das Meer davonfliegen. Und die scheinbare »Aufmerksamkeit« der Architektur ist stimmig, denn es handelt sich um eine ehemalige Seenot-Rettungsstation.
Mehr als Bäderarchitektur und Prora
Architektur auf Rügen. Man denkt sofort an die feingliedrige Fassaden der Bädervillen und Seebrücken, die als Flaniermeilen aufs Meer hinausreichen, hier und da ein schmuckes Schloss vor hübscher Boddenlandschaft und natürlich den scheußlichen Koloss von Prora. Aber dank Ulrich Müther, der das Ufo, pardon, den Rettungsturm der Strandwache über die Dünen von Binz hob, gibt es auf der größten und bevölkerungsreichsten deutschen Insel auch das ein oder andere Bauwerk der architektonischen Moderne.Der 1934 in Binz geborene Bauingenieur Müther hatte seine Diplomarbeit über hyperbolische Paraboloidschalen, kurz »Hyparschalen«, geschrieben. Für Laien mag das so trocken klingen wie »Spritzbeton«. Für Müther war es die Grundlage, um seine spektakulären Bauwerke umzusetzen. Denn die Betonschalen sind nur wenige Zentimeter dünn, vergleichsweise leicht (und materialsparend), lassen sich krümmen und in Falten legen, in sich eindrehen und aufkräuseln.Dadurch wurden die kühnsten Dachkonstruktionen möglich, die leicht und beschwingt ihre Gebäude überspannen wie Sonnensegel im sanften Sommerwind.
Hyperbolische Paraboloidschalen auf Bushäuschen und Mehrzweckhalle
Das bekannteste Beispiel für Hyparschalen-Bedachung an der Ostseeküste steht wohl in Warnemünde: das schwungvoll gekrümmte Dach des markanten »Teepotts« (1968), einer gastronomischen Einrichtung, die sich neben dem Leuchtturm zu einem Wahrzeichen emporschwang. Eine Art Prototyp, eine Versuchsschale für das Dach einer 1967 errichteten Mehrzweckhalle in Rostock, findet sich auch in Binz und dient als originelles, wenngleich leicht zu übersehendes Bushäuschen (Dollahner Straße). Hyperschalen aber gehen auf Rügen auch größer!
Dazu verlassen wir Binz gen Norden, lassen (ausnahmsweise …) den herrlichen Nationalpark Jasmund mit seiner berühmten kreideweißen Steilküste rechts liegen und durchqueren die Halbinsel Jasmund. In dem kleinen Ort Glowe treffen wir fast am Ortsrand auf die Ostseeperle, eine Gaststätte, die sich zum Meer hin öffnet. Linker Hand beginnt hinter dem unspektakulären Kurplatz bereits Küstenschutzwald. Hinter einer niedrigen Dünung stehen ein paar Strandkörbe im Sand, dahinter erstreckt sich die weite Tromper Wiek. Eckig zwar, aber wie eine geöffnete Muschel erhebt sich das 1968 entstandene Restaurant. Über der lichten Glasfassade kippt die leicht angedrehte Hyparschale nach hinten weg und wirkt dabei leicht und elegant. Noch immer ist die Ostseeperle eine beliebte Gaststätte mitsamt Eismanufaktur und natürlich herrlicher Aussicht.
Moderne Ingenieurskunst als DDR-Exportgut
Müther, der nur über Umwege Bauingenieur werden konnte – als Sohn eines Unternehmers war ihm in den 1950er Jahren zunächst versagt zu studieren –, realisierte im Laufe seiner langen Karriere über 70 Schalenbauten. Seine Ingenieurskunst wurde sogar zu einem gefragten DDR-Exportgut. Dennoch, in den ersten Nachwendejahren liefen viele von Müthers Werken Gefahr, verloren zu gehen, und so manches ging auch verloren. Selbst die Ostseeperle wäre fast abgerissen worden. Für die Bauten der DDR-Moderne musste sich erst noch ein breiter aufgestelltes Bewusstsein entwickeln. Doch noch zu Lebzeiten konnte Müther über die Sanierung mancher seiner mittlerweile zu Ikonen der DDR-Baukunst avancierten Bauwerke wachen: 2004 beispielsweise über die Sanierung des Rettungsturms am Strandzugang 6 in Binz. Drei Jahre später starb Ulrich Müther in jenem Ostseebad, dem er zeitlebens treu geblieben war.2018 wurde der Rettungsturm schließlich erneut saniert, gemeinsam mit der Kurmuschel in Sassnitz – eine weitere prominente Station auf der Reise zu Müther-Bauten auf Rügen. Mit dem Rücken zum Meer fächert sich am etwas abseitigen Kurplatz überaus elegant der Musikpavillon auf und dient heute wieder als attraktiver Ort für Auftritte aller Art. Während Kurmuschel und Ostseeperle also ihren ursprünglichen Zweck erfüllen, wurde Müthers Rettungsturm in Binz einer neuen Bestimmung zugeführt. Hier wird nicht mehr nach havarierten Badeurlaubern Ausschau gehalten, sondern in den Hafen der Ehe gelotst: Der Rettungsstation am Strandzugang 6 gehört heute zum Binzer Standesamt – als äußerst attraktive Außenstelle.